5 - Diagnose

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"Dritter Platz.
Kaum zu glauben."
Kopfschüttelnd läuft Xavier aus der Tür und ich verlasse nach ihm die Sporthalle.
Der frische Wind weht durch die Straße und ich kuschle mich in meinen Schal.
"Soll das etwa heißen, das hättest du nicht erwartet, mit mir in einem Team?"
Skeptisch verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe ihn an, während er bloß grinst.
"Keine Antwort ist auch eine Antwort", lache ich und schlage ihm gegen die Schulter.
"Dir habe ich all meine blauen Flecken zu verdanken", erklärt er amüsiert.
"Manchmal bist du echt erträglich."
"Du auch", erwidere ich und muss leicht schmunzeln.
"Das ist..."
"Ist okay, verzieh dich jetzt bevor ich kotzen muss", lache ich und schiebe ihn weg, was ihn ebenfalls zum Lachen bringt.
"Du bist und bleibst eine Hexe", ruft er noch, als er sich während dem Laufen umdreht.
Ich hebe bloß den Mittelfinger bevor er es auch tut und schüttle lachend den Kopf, als auch schon Addison und Matt endlich raus kommen und wir zum nächsten Kurs gehen können.

"Ich verstehe immer noch nicht, warum du mich unbedingt zum Arzt schleppen willst."
Schulterzuckend steckt Xavier seine Hände in die Hosentaschen, als wir am nächsten Mittag durch die Stadt laufen in Richtung Arzt.
"Weil wir uns ernsthaft Sorgen um dich machen."
"Wir?"
Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert er mich von der Seite, aber ich lasse mich davon nicht beirren, sondern ziehe weiter an dem Strohhalm, der in meinem Milchshake steckt.
"Aaron, Sean und ich."
"Ihr seid mir wirklich ein Rätsel", antwortet er bloß darauf und ich beobachte einen Vogel, der auf einer Bank landet, bevor ich meinen Kopf wieder zu ihm drehe.
"Warum?"
"Jetzt verbündest du dich schon mit meinen Freunden, weil ich anscheinend irgendwas habe."
"Was soll das heißen; ich."
Er erwidert meinen Blick und ich lache in mich hinein.
"Schon klar, schon klar.
Mary und Xavier geht genauso wenig wie Mary und Xaviers Freunde."
Er steigt in mein Lachen mit ein und ich nehme noch einen Schluck, bevor ich spreche.
"Im Ernst, wir machen uns wirklich Sorgen und du weißt auch, das irgendwas ist.
Schließlich habe ich das auch selbst mitbekommen, nachdem wir mit Sean und Addison im Café waren.
Auch wenn du bloß ein paar Kreislaufprobleme hast, wir brauchen einfach nur eine Bestätigung."
"Eben, ihr braucht eine Bestätigung."
Ich seufze und lasse meinen Becher sinken.
"Das ist deine Gesundheit, Xavier, du solltest das etwas ernster nehmen."
"Also soll ich das nächste mal auch zum Arzt rennen, wenn mir ein Haar ausfällt?
Vielleicht habe ich ja Krebs oder derartiges."
"Erstens fallen dir deine Haare nicht einfach so aus deshalb und zweitens gibt es bei dir auch nur schwarz oder weiß, was?
Es gibt auch etwas dazwischen", erkläre ich und streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Zopf gelöst hat.
"Ist ja gut, komm runter", brummt er und zieht sein Handy aus der Hosentasche.

"Xavier Thomson, bitte", ruft die junge Frau durch den Warteraum und der Angesprochene erhebt sich neben mir.
"Soll ich mit?"
"Schlimm genug, dass du mich hier her begleitet hast."
"Du bist ein Idiot", beschwere ich mich lachend und sehe ihm noch hinterher, bis er aus dem Raum ist.
Und so vergeht eine gefühlte Ewigkeit, in der ich durch Zeitschriften geblättert und durch Facebook gescrollt habe.
Ich fühle mich gut, es ist ein ganz normaler Tag.
Ich überlege, was ich später noch mache und nehme mir vor, meine Präsentation vorzubereiten.
Es soll ein ganz normaler Tag werden und bis jetzt ist es das auch, doch als Xavier plötzlich im Türrahmen steht und mich so ansieht, ist mir klar, dass es alles andere als ein normaler Tag wird, denn mein Gefühl ist schlechter als schlecht.
"Xavier, was ist los?"
Besorgt stehe ich auf und lege dabei die Zeitschrift auf den kleinen Tisch neben mir.
Er scheint total aufgeregt zu sein.
"Kannst du, kannst du bitte mit rein kommen?", fragt er leise und ich greife nach seinen Händen, als ich vor ihm stehe.
"Hey, was hat der Arzt denn gesagt?"
Er drückt meine Hände fester und vermeidet meinen Blick.
"Es ist was ernstes", sagt er leise und verwirrt mich nur noch mehr.
Sein Blick trifft nun auf meinen und jagt mir einen Schauer über den Rücken.
"Es ist etwas sehr ernstes."
"Was für etwas ernstes?"
"Ich wollte nichts genaues hören.
Ich wollte, dass du dabei bist."
Er löst seine eine Hand aus meiner und zieht mich an der anderen den Gang entlang in ein Zimmer, in dem schon der Arzt sitzt.
Ich bin immer noch komplett verwirrt und setzte mich auf einen der Stühle, die gegenüber von dem des Arztes stehen.
"Also."
Er räuspert sich und lehnt sich vor, während Xavier unauffällig nach meiner Hand greift.
Die Tatsache, dass der Mann in weiß vor uns sich ziemlich unwohl fühlt und allen Anschein etwas nervös ist, lindert meine Angst nicht.
Was ist diese ernste Sache?
Was hat er?
Es herrscht noch wenige Momente Stille, die sich anfühlen wie eine Ewigkeit.
Warum sagt er nichts?
Warum benimmt er sich so, als würde er etwas bedauern?
Was ist hier los?
"Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Mister Thomson, aber sie sind schwer krank."
Für einen Moment herrscht eine bedrückende Stille und ich habe das Gefühl an ihr zu ersticken.
"Die Krankheit nennt sich MDP.
Sie werde immer mehr die Kontrolle über ihren Körper verlieren, aufgrund ihrer absterbenden Nervenbahnen.
Ihr Gehirn kontrolliert Ihre Bewegungen, doch irgendwann reicht es auch nicht mehr für die Organe."
Ich verstehe diese Worte nicht.
Ich verstehe sie einfach nicht.
Ich will sie nicht verstehen.
Xavier drückt meine Hand fester, aber das nehme ich nur am Rande wahr.
"Was soll das heißen?"
Seine Stimme klingt erstaunlich fest und ruhig, doch ich weiß, was wirklich in ihm brodelt.
"Sie werden nach und nach sogenannte Schübe bekommen, die unterschiedlich ablaufen.
Nach einem Schub können Sie eine ihrer Hände, zum Beispiel, nicht mehr bewegen, oder fühlen Ihre Beine nicht mehr.
Die Schübe werden von Mal zu Mal heftiger, irgendwann werden Sie danach nicht mehr sprechen können.
Es ist schwer, noch genaueres zu sagen.
Wann sie diese Schübe bekommen, wie lange sie dauern, was genau bei jedem Mal passiert. Dazu ist die Krankheit noch nicht weit genug erforscht und deshalb ... "
Der Arzt bricht ab und ich hebe meinen Blick von meinen Oberschenkeln, während ich immer noch wie erstarrt scheine.
Was deshalb?
Was passiert deshalb?
Ich will ihn fragen, aber meine Stimme funktioniert im Moment nicht.
"Und deshalb gibt es auch noch kein Heilmittel."
Der Arzt senkt den Blick.
"Es ist unheilbar."
Die Stille kehrt zurück und diesmal scheint sie mich zu erwürgen.
Meine Augen fangen an zu brennen und ich blinzle endlich.
Unheilbar.
Xavier räuspert sich und verschränkt seine Finger mehr mit meinen, bevor er spricht.
"Wie lange noch?"
Ich will die Antwort nicht hören, ich will hier raus.
Ich will es nicht wissen, ich will einfach nur nach Hause.
"Schätzungsweise sechs Monate."

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now