7 - Blickwinkel

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Gähnend schlage ich mein Schließfach zu und trotte in Richtung Kursraum.
Ich hasse Montag.
Und Dienstag.
Und Mittwoch.
Und eigentlich die ganze Woche, außer Samstag und Sonntag.
Wobei man Sonntags schon langsam wieder verzweifelt, weil am nächsten Tag Montag ist.
Mit den Gedanken total woanders, bemerke ich überhaupt nicht Addison, die neben mir auftaucht.
"Bist du noch ansprechbar?"
Ich hebe den Blick und sie runzelt die Stirn.
"Wieviel Stunden Schlaf hattest du?"
Seufzend schaue ich wieder geradeaus und antworte nicht.
"Ich glaube, ich will es überhaupt nicht wissen.
Du siehst Scheiße aus, Mary, was ist passiert?"
Dabei mustert sie wahrscheinlich mein Outfit, das aus einer Jogginghose und einem großen T-Shirt besteht.
"So fühle ich mich auch.
Meine Eltern wollen mich immer noch auf ein Mädchen Internat schicken.
Wir hatten gestern wieder mega den Streit, da habe ich heute morgen, nach zwei Stunden Schlaf, wirklich keine Kraft gefunden mich zu schminken und mir großartig Sorgen um meine Klamotten zu machen."
Erschöpft lehne ich mich an die Wand vor dem Raum, da dieser abgeschlossen ist und der Professor erst noch kommt.
Sie streicht sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht und stellt sich vor mich.
"Das Ganze ist jetzt schon ein Jahr her", merkt sie an und ich stimme ihr nickend zu.
"Trotzdem ist es noch ein aktuelles Thema.
Zumindest bei mir zu Hause."
"Er ist nicht einmal mehr auf dieser Schule, also wie könnte er..."
Ich halte ihr die Hand auf den Mund und sehe etwas hektisch um mich.
"Schrei doch bitte nicht so rum!
Ich will wirklich nicht schon wieder die Lachnummer der Schule werden, wenn sich die Leute wieder daran erinnern", erkläre ich leise und nehme Matt wahr, der neben uns auftaucht.
"Geht's um McNamara?"
"Dass du Liam mit Nachnamen ansprichst, macht das Ganze auch nicht besser", sage ich etwas bissig und gehe sicher, dass uns ja keiner belauscht.
Liam McNamara ist einfach ein heikles Thema.
Ein scheiß Thema.
"Ich kann immer noch nicht glauben, dass er dir das angetan hat."
Addison scheint das selbst jetzt noch zu beschäftigen.
"Mit dir zusammen sein, dich aber zu fotografieren dabei und..."
"Kannst du das Thema jetzt bitte endlich sein lassen?"
Wieder halte ich ihr den Mund zu.
"Es ist ein Jahr her, Leute.
Ich will das nicht zum 100. Mal durchkauen um immer wieder auf das gleiche Ergebnis zu kommen.
Er ist der letzte Vollpfosten und wird hoffentlich genauso verarscht wie ich es von ihm wurde.
Fertig."

"Hast du vielleicht Lust, später einen Kaffee trinken zu gehen?"
Xavier scheint ziemlich überrascht von meiner Frage, als ich ihn noch am selben Tag in der Cafeteria abfange.
Dass Aaron und Sean neben ihm stehen, ist mir genauso egal wie dass die halbe Highschool in diesem Raum ist.
"Soll ich dich nach Mathe abholen?"
Ich nicke als Bestätigung und starre ihn noch einige Momente an, bevor ich einfach davon laufe.
Ich weiß einfach nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.
Eigentlich haben wir uns immer gestritten, dann gab es einige Momente, in denen wir auch normal gesprochen haben, aber das ist nicht das, was mich so verwirrt.
Seit der Diagnose ist es anders, was natürlich auch verständlich ist.
Zum Einen beunruhigt diese Nachricht auch mich und zum Anderen ist es für ihn unglaublich schwer.
Wobei beunruhigen wahrscheinlich untertrieben ist.
Ich will ihn nicht bemitleiden und mich verhalten, als könnte er keinen Schritt mehr allein gehen und bräuchte bei allem Hilfe.
So zu tun, als wäre nichts und mit ihm rumzualbern wie letzte Woche noch, erscheint mir allerdings auch nicht als passend.
Und auch wenn ich dachte, ich hätte es verstanden, dass er tatsächlich nur noch wenige Monate hat, kann ich es trotzdem noch nicht realisieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach mal nicht mehr da sein wird.
Dass er wie in Büchern eine To-Do Liste schreibt und alles noch einmal macht, was er liebt.
Es geht nicht in meinen Kopf rein und es scheint noch so fern.
Dabei geht ein halbes Jahr schneller rum als eine Mathe Stunde.
Das ist es nämlich.
Die Zeit, die du genießt, rauscht an dir vorbei, während die Zeit, die du nicht ertragen kannst, dich nicht mehr los lassen will.

"Willst du in ein bestimmtes Café?", will Xavier wissen, aber ich schüttle bloß den Kopf.
"Lass uns vielleicht einen zum Mitnehmen holen und uns auf eine Bank setzen.
Das Wetter ist heute so schön."
Er nickt bestätigend und meine Anspannung lässt nicht nach.
Ich weiß nicht wieso, aber seit letztem Mittwoch, seit der Diagnose, seit es so anders zwischen uns ist, will ich mehr Zeit mit ihm verbringen.
Weil ich ihn bemitleide.
Hastig schüttle ich den Kopf und nehme Xavier einen Kaffee aus der Hand, bevor wir wieder raus laufen.
Es ist so schwer mit sowas umzugehen, dabei bin ich ja nicht einmal die Person, die es am Schwersten hat.
"Wie findest du sie?"
Ich bin erst etwas verwirrt, verstehe es dann aber und folge seinem Blick.
"Gute Figur", urteile ich und betrachte das blonde Mädchen, welches einige Meter weiter vorbei läuft.
"Sieben von 10 Punkten."
"Was? Niemals!"
Verständnislos sehe ich ihn an und er fängt an zu lachen.
"Das ist mindestens eine neun", meine ich und er trinkt grinsend einen Schluck.
"Du musst nicht lachen, wenn du nicht willst."
Augenblicklich bereue ich den Satz.
Es hört sich ausgesprochen um einiges dümmer an.
"Wie meinst du das?"
Er zieht die Augenbrauen zusammen, als er sich zu mir dreht.
"Ich, ähm..."
Schnell nehme ich einen Schluck, um Zeit zu schinden.
"Du musst nicht so tun, als ob es dir gut geht.
Als ob du wirklich lachst."
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat meine Erklärung es nur noch schlimmer gemacht.
Ich bin so ein Idiot.
"Versteh das bitte nicht falsch, Xavier.
Aber du, du musst nicht hier so mit mir sitzen."
"Mary, hör auf!"
Ich verstumme und zerdrücke beinahe den Becher in meiner Hand, vor Anspannung.
"Ich bin krank und ich sterbe, ich weiß es.
Deshalb bin ich jetzt kein anderer Mensch, klar?
Du musst dich deswegen nicht um mich kümmern oder meinetwegen deine Frezeit opfern, verstanden?
Zwischen uns hat sich genauso wenig geändert wie ich mich geändert habe.
Muss ich jetzt das letzte halbe Jahr lang weinen und schlechte Laune haben?
Hättest du überhaupt jemals nach einem Nachmittag zu zweit gefragt, wäre der letzte Mittwoch nie passiert oder wärst du niemals dabei gewesen und hättest nichts von der Krankheit erfahren?"
Sein lauter Ton verschafft mir eine Gänsehaut und er wirft den Becher rücksichtslos auf den Boden, bevor er aufspringt und davon läuft.
Wie erstarrt sitze ich da und starre den Kaffee an, der eine große Pfütze auf dem Boden bildet.
Hätte ich ihn trotzdem gefragt?

Mit rangezogenen Knien sitze ich auf der kleinen Mauer, von der man einen perfekten Blick auf den Hof hat.
Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, seit Xavier mir seine Meinung gesagt hat und seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, denn er ist bis gestern nicht zu den Kursen erschienen.
Jetzt gerade steht er auf der anderen Seite des Hofs und unterhält sich mit Sean, Aaron und ein paar anderen.
Da der Kurs von Matt und Addison heute einen Ausflug in die Nachbarstadt macht, sind sie nicht da.
Hier in Springfield gibt es wohl nichts interessantes mehr.
"Hey."
Ich zucke etwas zusammen, als Sean bei mir ankommt und sich neben mich auf die Mauer hockt.
Apropos Sean, ich sollte mal Addison auf ihn ansprechen.
Es kann nicht bei einem Date geblieben sein.
"Die meisten Menschen, die arrogant und kühl scheinen, sind es auch.
Manche benutzen es allerdings als Schutz.
Als Mauer, die sie von anderen trennt", spricht er und ich halte meinen Blick geradeaus. Seine direkt Art und wie er sofort zum Punkt kommt überrascht mich.
"Xavier ist nicht der Vollpfosten, der er vorgibt zu sein.
Zumindest meistens.
Ich weiß, dass er nervt, dass er anstrengend und oft total bescheuert ist, aber er ist kein schlechter Mensch, Mary."
Er weiß von der Diagnose, das merke ich.
Das höre ich.
"Er hat seine Gründe und er hat auch Gründe, warum er Menschen oftmals von sich weg stößt, auch wenn er sie liebt.
Auch wenn sie ihm wichtig sind."
Ich drehe meinen Kopf zu ihm und seine braunen Augen spiegeln pure Verzweiflung wider.
Xavier hat es ihm erzählt.
"Was ich damit sagen will."
Er sieht wieder geradeaus zu seinem besten Freund, mein Blick fixiert ihn allerdings weiterhin.
"Lerne ihn bitte besser kennen, bevor du über ihn urteilst.
Sei nicht wie die anderen und vor allem, lass nicht locker."
Sein Blick erwidert meinen und ein minimales Lächeln bildet sich auf seinen Lippen.
"Wenn er dich irgendwann ins Herz schließt und du für ihn irgendwann mehr als nur eine Mitschülerin bist, dann lass nicht locker, auch wenn er sagt du bedeutest ihm nichts.
Auch wenn er dich vielleicht weg stößt.
Tu' mir den Gefallen und hinterfrage mehr, nimm nicht alles so hin, wie es kommt und wie es andere erzählen."
Mit diesen Worten springt er von der Mauer und läuft los, während ich überhaupt nicht weiß, wie ich mich verhalten soll.
Seine Worte lösen etwas seltsames in mir aus.
Auf einmal sehe ich Xavier aus einem ganz anderen Blickwinkel und das hat nichts mit der Diagnose zu tun.
"Sean?"
Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um.
"Noch vor wenigen Tagen haben Xavier und ich uns nicht leiden können, wieso sagst du mir das alles nun?
Wie kommst du auf die Idee, dass es so werden kann?
Warum glaubst du das?"
Er zieht einen Mundwinkel hoch und legt den Kopf etwas schief.
"Weil du einen starken Willen hast."

Das letzte halbe Jahr Onde histórias criam vida. Descubra agora