14 - Selbstmord

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"Du willst dein Leben beenden, bevor es das selbst tut?", wiederhole ich verdutzt seine Worte und richte mich wieder auf, sodass ich sitzen kann.
"Was soll das heißen?"
Er macht eine lange Pause und zieht sich ebenfalls hoch, damit er sich an der Lehne anlehnen kann.
"Dass ich..."
"Dass du dich umbringen willst, dass du Selbstmord begehen willst, bevor dich deine Krankheit umbringt?
Bevor du weitere Schübe bekommst und bald nicht mehr laufen kannst?
Bevor du deine Stimme verlierst und bevor deine Organe den Geist aufgeben?"
Auf einmal spricht die Wut aus mir und ich springe vom Sofa auf, um Abstand zu gewinnen.
Er hingegen scheint ziemlich verzweifelt, auch wenn man Xavier ansieht, dass ihm der Schock noch immer in den Knochen sitzt.
Er bittet:"Hör mir doch erstmal zu!", nachdem ich ihn zuvor mitten im Satz unterbrochen habe.
Seufzend fährt er sich über das Gesicht und schwingt die Beine über den Rand des Sofas.
"Genau auf das kann ich nämlich verzichten.
Ich will das nicht erleben, wenn Sean mich durch die Highschool schieben muss.
Wenn ich nicht mal mehr in mein Zimmer komme, weil wir keinen Aufzug haben.
Genauso habe ich keine Lust, jeden Scheiß aufschreiben zu müssen, verstehst du?
Ich kann dich nicht mehr nerven, weil ich den Müll erstmal ewig aufschreiben muss und es einfach nicht dasselbe ist, als wenn ich es dir sage."
Sein Mund bleibt weiterhin geöffnet, allerdings spricht er erstmal nichts.
Auch mir bleiben die Worte weg.
"Ich kann nicht mal mehr mit dir lachen."
Es ist kaum ein Flüstern, was er raus bringt, während er aufsteht und einen Schritt auf mich zu kommt.
Für einen kurzen Moment sind meine Gedanken ausgelöscht und ich muss mir meine Worte und Reaktion erstmal wieder zusammensuchen.
Kopfschüttelnd sehe ich vom Boden wieder auf und weiche den Schritt zurück, den er auf mich zugekommen ist.
Für einen kurzen Moment konnte ich das voll und ganz nachvollziehen, aber das geht einfach nicht.
"Nein, Xavier.
Ich kann verstehen, dass du das nicht toll findest, das tut keiner, aber deswegen kannst du dir nicht das Leben nehmen!
Was willst du denn machen?
Dich aus dem Fester stürzen?
Dich erschießen?"
Ich bekomme die Worte kaum raus und merke, wie mich eine Gänsehaut überkommt.
Tränen schießen mir in die Augen und ich stoße gegen die helle Kommode im Flur.
"Mary, bitte, ich..."
Seine Augen schimmern im Licht der untergehenden Sonne, als er mit halb ausgestreckten Armen auf mich zu kommt, als wäre ich ein kleiner, verlorener Welpe, der schreckliche Angst hat.
Und so fühle ich mich auch.
"Nein.
Du hast, wenn überhaupt, ein halbes Jahr.
Das ist weniger als wenig Zeit, und die willst du auch noch wegwerfen?
Was ist mit deiner Mutter?
Deinem Vater?
Deiner Familie und deinen Freunden?
Was ist mit mir?"
Der Schluss ist kaum mehr ein Wispern und ich drehe ihm den Rücken zu, um aus dem Haus zu laufen.
"Mary, warte doch!"
Ich schnappe mir die Schlüssel, die ich zuvor noch aufgehangen habe, den Mantel, der noch neben der Haustür hängt und schlüpfe schnell in meine noch nassen Sneaker, ohne sie zuzubinden.
Ohne ein weiteres Wort knalle ich die Tür hinter mir zu und lasse ihn drin stehen.
Wie erwartet reißt er sie wieder auf und ich höre schnelle Schritte hinter mir, nachdem die Tür erneut laut ins Schloss gefallen ist.
"Lass mich in Ruhe!", rufe ich über die Schulter.
Der Schlüssel klappert laut in meiner Hand und ich weiß nicht, wie ich gerade mit mir umgehen soll.
Auf der einen Seite bin ich so unglaublich wütend, dass er überhaupt auf die Idee kommt.
Andererseits zeigt mir das nur noch mehr den Stand der Dinge und ich will am liebsten weinen.
Kühler Wind pfeift mir um die Ohren und bringt meine heiße Haut etwas zum abkühlen.
Tränen laufen mir die Wangen hinab, nachdem ich, wegen dem starken Wind, die Augen zusammenkneifen musste.
"Es tut mir leid!"
Seine verzweifelte Stimme treibt mir noch mehr Tränen in die Augen und ich bleibe stehen.
Es ist, als würde mein Körper auf einmal keine Kraft mehr haben.
"Es tut mir so leid."
Das Flüstern ist so herzzerreißend, dass ich mich einfach umdrehen muss.
Für einige Momente stehen wir uns einfach wenige Meter gegenüber und starren uns an, obwohl wir eigentlich beide ins Leere sehen.
Ich flüstere ein leises:"Nein", und überbrücke die Strecke zwischen uns, um ihn in die Arme zu schließen.
"Mir tut es leid."
Es ist so leise, dass ich nicht weiß, ob ich es überhaupt ausgesprochen habe.
Dennoch stimmt es, denn es tut mit wirklich leid.
Ich kann ihm keine Vorwürfe machen, nicht in so einer Situation.
Nicht jetzt.
"Ich habe Angst."
Seine kalten Tränen laufen über meine warme Haut, als er sein Gesicht neben meinem Kopf platziert.
"Ich habe Angst, wie es sich anfühlt", fügt er leise hinzu.
"Ich weiß, dass ich dir immer sage, du sollst später einmal nicht weinen, aber bitte verlange das nicht von mir."
Vorsichtig löst er sich von mir und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
"Ich kann es nicht.
Ich kann diese Angst, diese Panik, nicht unterdrücken.
Diese Ungewissheit, was mit meinem Körper geschieht und wie es sich anfühlt - das kann ich einfach nicht abschalten.
Ich weiß überhaupt nicht, was ich als erstes tun will.
Mir ist klar, dass ich dir gesagt habe, dass ich so einen Quatsch wie eine To Do Liste nicht will und dass ich nicht alles in dieses halbe Jahr quetschen will, aber ein paar Sachen will ich noch machen.
Kleinigkeiten, die ich jeden Tag mache und die ich einfach so liebe.
Ich will Sean weiterhin im Basketball schlagen, wenn ich im gegnerischen Team bin und ihn ärgern möchte.
Ich will Aaron weiterhin in den Arsch treten, wenn er mich nervt und ich will weiterhin dir, Addison und Matt über den Weg laufen und dir dabei zuzwinkern, damit du die Augen verdrehst.
Wie soll ich das machen, wenn ich morgen schon einen beschissenen Schub bekomme und nicht mehr laufen kann?
Wie soll ich meiner Mum sagen, dass mir unsere Vergangenheit leid tut, wenn ich schon übermorgen nicht mehr reden kann?
Wie soll ich dich provozieren und im Nachhinein mit dir darüber lachen, wenn ich keinen Ton mehr raus bekomme?"
Auf einmal scheint nun ihn die Panik zu überkommen und er krallt sich in seinen Haaren fest.
"Es könnte schon in zehn Minuten soweit sein.
Es könnte schon in zehn Minuten soweit sein", wiederholt er sich leise und ich nehme seine Hände aus seinen Haaren in meine.
"Hör mir zu, Xavier.
Hör mir zu."
Ich versuche so ruhig wie möglich zu sprechen, um ihm seine Panik zu nehmen, obwohl ich selbst genügend davon habe.
"Sieh mich an."
Seine braunen Augen heben den Blick und ich muss automatisch lächeln, als sie in meine blicken.
Während meine Hand seine Wange auf und ab streicht, ziehen auch seine Mundwinkel sich minimal nach oben.
"Du kannst das alles noch machen, das weiß ich.
Es wird nicht morgen geschehen und auch nicht übermorgen, klar?
Das verspreche ich dir."
Tatsächlich ist das mein erstes Versprechen, welches ich nicht selbst in der Hand habe und genau deshalb wünsche ich mir mehr als alles andere, dass ich es halten kann.

"Schon lustig, wie die Zeiten sich ändern."
Addisons ruhige Stimme stimmt überein mit der ruhigen Atmosphäre, die hier oben auf dem Dach herscht.
Matts Dach hat einfach die beste Aussicht auf die überschauliche Kleinstadt .
Manchmal kann es schon etwas gruselig sein, wenn er oder seine Eltern nach Hause kommen und wir gerade durch das Fenster wieder ins Haus steigen, aber das sind sie inzwischen gewohnt.
Da wir den Platz des Ersatzschlüssels kennen, ist das Ganze auch kein Problem.
"Was meinst du?", frage ich nach, obwohl ich es eigentlich weiß.
"Ich kann mich noch erinnern, als wir auf dem Weg zu meinem Date mit Sean waren und dann Xavier dort erschienen ist."
Ich höre sie neben mir kurz kichern, allerdings bleibt mein Blick in den bewölkten Himmel gerichtet.
Zugegebenermaßen ist das Dach nicht besonders gemütlich zum Liegen, dennoch liebe ich es.
Xavier würde es hier gefallen.
So wie er seine Bank hat, habe ich mein Dach hier oben.
"Ihr hättet euch am liebsten die Haare vom Kopf gerissen und jetzt lacht ihr miteinander, als wäre es nie anders gewesen."
Irgendwie scheint sie das zum Nachdenken zu bringen, weshalb ich nachfrage.
"Wieso sagst du das so?"
"Hm."
Sie zuckt mit den Schultern.
"Ich finde es schön, dass ihr euch so toll versteht, auch wenn das Ganze aus so etwas schrecklichem entstanden ist."
Jetzt hat sie meine komplette Aufmerksamkeit und ich drehe mich mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Seite, sodass ich sie ansehen kann, während mein Kopf auf meiner Hand gestützt ist.
Der Blick, mit dem sie mich nicht einmal eine Sekunde anschaut, bevor sie wieder in den Himmel blickt, sagt mehr als tausend Worte.
"Raus damit, Addison."
Das macht sie immer, wenn ihr etwas rausgerutscht ist.
Seufzend richtet sie sich auf und setzt sich im Schneidersitz mir gegenüber.
"Xavier hat mir das mit der Multapel Skelrose erzählt, oder wie das heißt."
"Multiple Sklerose", korrigiere ich sie, obwohl ich eigentlich eher etwas verdutzt bin.
Etwas viel.
Allen Anschein bemerkt auch Addison das, weshalb sie anfängt zu erklären.
"Er will nicht, dass du Matt und mir irgendwas verheimlichen oder uns sogar anlügen musst, weil die Antwort auf etwas nur seine Krankheit wäre.
Es ist süß von ihm, dass er so an dich denkt und dir die Situation erleichtern möchte."
Matt hat er es also auch erzählt.
Ich bin unschlüssig, wie ich auf diese Nachricht reagieren soll.
Auf der einen Seite bin ich erleichtert, dass ich nun mit Addison und Matt darüber sprechen kann, um meine Gefühle einfach mal auszusprechen, obwohl ich daran bis jetzt noch überhaupt nicht gedacht habe.
Andererseits wollte ich ihn nicht indirekt zu etwas zwingen.
Das muss ich ihm auf jeden Fall noch erklären.
"Hat euch die Diagnose so eng zusammengeschweißt?"
Ich hebe den Blick und komme wieder ins Hier und Jetzt, was mich erstmal verwirrt.
"Wir sind nicht eng zusammengeschweißt", erwidere ich kopfschüttelnd und frage mich, ob das denn so rüber kommt.
Dennoch ist auch mir klar, dass sich zwischen Xavier und mir einiges geändert hat und darauf beziehe ich mich auch, als ich weiter spreche.
"Sie hat uns zumindest für einige Momente die Kraft geraubt, uns gegenseitig beleidigen zu wollen.
Anfangs war ich mir nicht sicher, ob es bloß Mitleid ist, aber jetzt weiß ich es.
Ich mag ihn und ich..."
Meine Stimme bricht ab und ich weiß um ehrlich zu sein nicht, was ich noch sagen will.
"Er verlangt von mir, dass ich nicht weinen soll.
Dass ich nicht egoistisch sein und wissen soll, dass es ihm irgendwo besser geht, wenn er für immer schläft."
Müde von allem beobachte ich Addisons schwarzes Haare, das ihr vom Wind ins Gesicht geworfen wird und anschließend die kleine Strähne, die sich in ihrer Sonnenbrille, welche in ihrem Haar steckt, verfangen hat.
Es ist seltsam das alles einer dritten Person zu erzählen, auch wenn es meine beste Freundin ist.
Normalerweise kann ich ihr immer alles ins kleinste Detail schildern.
Ob nun meine Eltern wieder mit dem Mädchen Internat anfangen, Shane was mit einem Mädchen am Laufen hat oder mir irgendetwas peinliches passiert ist, alles kann ich ihr erklären.
Und obwohl ich vor wenigen Minuten noch erleichtert war, dass ich nun mit jemandem darüber reden kann, habe ich nichts zu sagen.
Ich kann dazu einfach nichts sagen, als wären all die Worte fort, mit denen ich hätte einen Satz zu Xavier formulieren können.
"Und wie siehst du das?"
Im Augenwinkel sehe ich, dass ihr unsicherer Blick mich fixiert hat.
Ich allerdings sehe geradeaus auf das Städtchen, seufze und zucke kurz mit den Schultern.
"Eigentlich wie er.
Damit hat er schon Recht."
"Aber?"
Addison wusste schon immer, wann ein aber kam und wann nicht.
Etwas träge drehe ich mich zu ihr und versuche ein wenig zu Lächeln, was mir allerdings misslingt.
"Aber es ist verdammt schwer."

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now