13 - Gefühl

2.3K 142 2
                                    

Kühler Wind pfeift durch die Straße.
Blätter wirbeln durch die Luft und die, die noch auf der Straße liegen, steigen durch die vorbeifahrenden Autos in die Höhe.
Die Menschen ziehen ihre Jacken enger und auch ich knöpfe meinen beigen Mantel zu.
Mit kühlen Händen greife ich nach meinem Kaffee und setze ihn an meinen Mund, bevor ich einen Schluck trinke.
"Acht hoch x", murmle ich vor mich hin und stelle die Tasse wieder auf die rechte Ecke des Blatts, damit es nicht wegfliegt.
Xavier und mein Gespräch auf Seans Geburtstagsfeier hat sich in meinem Kopf festgesetzt und scheint nicht mehr in Vergessenheit geraten zu wollen, obwohl es schon drei Wochen her ist.
Somit fällt es mir noch schwerer mir irgendwelche Mathematik Formeln zu merken und mich darauf zu konzentrieren.
Bis jetzt ist es irgendwie immer noch nicht vorstellbar, dass ich irgendwann an seinem Grab stehe.
Auf einmal läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich kann nicht behaupten, dass das von dem Wind kommt.
Tränen steigen mir wie aus dem Nichts in die Augen und ich lehne mich leicht nach vorne, sodass meine glatten Haare vor mein Gesicht fallen.
Er hat so ein Schicksal nicht verdient.
Niemand hat das und er verlangt etwas großes von mir.
Wie soll ich es einfach so akzeptieren, wenn jemand in meinem Umfeld stirbt?
Jemand, den ich mag?
In den Wochen ist eigentlich nicht viel passiert, dennoch könnte ich über 100 Sachen erzählen, welche mir durch den Kopf fliegen.
Ich habe öfter mal die Pause mit ihm verbracht und selbst als Sean, Addison, Matt und hin und wieder Aaron sich uns angeschlossen haben, war es eine wirklich gute Stimmung und wir haben uns alle verstanden.
Xavier und ich sind manchmal nachmittags in den Park gegangen, haben Kaffee getrunken oder sind auf der unscheinbaren Bank gesessen, auf die er mich aufmerksam gemacht hat.
Es mag langweilig klingen, aber wenn man mit der richtigen Person den ganzen Tag verbringt, dann muss man nichts großes machen und Xavier ist eindeutig die richtige Person.
Mit ihm kann ich über so viele Dinge reden, über die ich mir eigentlich sonst nie wirklich Gedanken mache und die mich im Nachhinein doch beschäftigen.
Die Mischung aus zusammen lachen und ernsten Gespräche gefällt mir.
Der Kellner drückt mir das Rückgeld in die Hand und ich greife nach meinen Unterlagen, bevor ich sie achtsam in meine Handtasche stecke.
Der Stuhl kratzt über den Steinboden und ich schiebe ihn wieder an den kleinen, runden Tisch.
Mit verschränkten Armen laufe ich den Weg entlang und hoffe, dass mir somit wärmer wird.
Versprich mir, dass du nicht weinen wirst, wenn du an meinem Grab stehst.
Ein Windstoß bringt meine Haare komplett durcheinander und ich hoffe, dass er den Satz von Xavier weggeweht hat, der nicht mehr zu verschwinden wollen scheint.
Ich weiche einer rennenden Frau aus und biege in eine Seitenstraße ab, um einen kürzeren Weg nach Hause zu nehmen.
Wieder schweifen meine Gedanken ab und ich nehme nur am Rande meine Umgebung wahr.
Jedes Mal, wenn Xavier mich umarmt, wenn er mich ansieht oder mit mir spricht.
Jedes Mal, wenn wir zusammen lachen oder zusammen traurig sind, frage ich mich, ob ich es ungeschehen machen wollen würde.
Ob ich alles rückgängig machen und dabei bleiben würde, ihn nicht zu mögen, wenn ich es könnte.
Wenn ja, wie könnte ich das begründen?
Ich würde sagen, dass ich nicht so traurig und verletzt sein würde, wenn er stirbt, allerdings hätte ich dann all die schönen Momente nicht und genau das ist es, was er mir immer sagt.
Ich soll nicht weinen, wenn es so weit ist.
Ich soll die schönen Momente weiter erleben, alle in meinem Herzen sammeln und wenn er dann stirbt, dann weiß ich, dass er jetzt an einem ebenso schönen Ort ist oder einem besseren.
Vielleicht im Himmel, vielleicht auf einem anderen Planeten, vielleicht immer noch hier als ein neuer Mensch oder vielleicht auch auf einer sonnigen Insel ganz weit weg von hier.
Bloß, weil ich ihn nicht mehr sehe, muss es ihm nicht schlecht gehen.
Ich darf nicht egoistisch sein und denken, dass der Tod schlecht ist, nur weil ich ihn dann nicht mehr vor mir habe.
Wenn es ihm danach besser geht als jetzt, dann würde ich ihn nicht zurück holen wollen, bloß damit ich ihn wieder sehen kann, das wäre einfach nicht gerecht.
Und aus diesen Gründen ist meine Antwort ganz klar nein.
Ich würde das alles nicht rückgängig machen, auf gar keinen Fall.
Dennoch kann ich nicht behaupten, dass ich bereits so weit bin.
Würde er jetzt sterben, wäre ich am Boden zerstört.
Ich würde weinen, bis ich nicht mehr kann und ich würde mir wünschen, dass er zurück kommt und ich kann das nicht von dem einen auf den anderen Tag ändern, denn ich bin auch einer dieser Menschen, die den Tod als grauenhaft bezeichnen und denken, dass es für den Toten, sowie für den Hinterbliebenen schlecht ist.
"Passen Sie doch auf!"
Ein verärgerter Mann im Anzug geht an mir vorbei, nachdem ich anscheinend beinahe gegen ihn gelaufen bin.
Ich habe eigentlich vermutet, dass nach Xaviers Aufenthalt im Krankenhaus die Schübe schlimmer werden, aber in den Wochen bis jetzt gab es bloß zwei kleine Vorfälle, als er kurz seine Hand nicht mehr richtig steuern konnte.
Und obwohl wir beide wissen, dass es keine Heilung gibt, wächst die Hoffnung bei mir jeden Tag mehr, an dem er keinen Schub hat.
Der Schlüssel klimpert, als ich ihn aus meiner Tasche ziehe und den richtigen erst beim zweiten Versuch ins Schloss stecke.
"Oh, Hey."
Überrascht drehe ich mich um, als ich gerade die Haustür öffne und entdecke Xavier, der mit den Händen in den Hosentaschen durch meinen kleinen Vorgarten anspaziert kommt.
"Was willst du?", frage ich, grinse allerdings dabei.
"Bin eigentlich auf dem Weg zu Sean und Aaron.
Danke für die nette Begrüßung", lacht auch er, während ihm eine braune Strähne in die Stirn fällt.
"Bilde dir nicht zu viel drauf ein, dass wir uns in letzter Zeit gut verstehen."
Amüsiert laufe ich ein paar Schritte weiter rein und löse die Schleife meiner Sneaker, während ich mich mit der einen Hand an der hellen Wand abstütze.
Xavier lehnt sich gegen den Türrahmen und schüttelt lächelnd den Kopf.
"In letzter Zeit also."
Ich strecke dem grinsenden braunhaarigen bloß die Zunge raus und schlüpfe aus meinem Mantel.
"Danke, dass ich eure Toilette noch schnell benutzen darf, bevor ich weiter gehe."
Damit läuft er an mir vorbei durch den Gang und biegt dann rechts ab.
Mit verschränkten Armen sehe ich ihm dabei zu.
"Das Bad ist links", rufe ich ihm zu.
Er antwortet:"Das wusste ich!" und huscht von rechts nach links.
Währenddessen räume ich meine Tasche aus, hänge meine Schlüssel an das kleine Brett über der Kommode und sehe auf die Uhr, die in der mit dem Eingangsbereich verbundenen Küche hängt, um festzustellen, dass meine Eltern in wenigen Stunden schon nach Hause kommen sollten.
Meine Mathematik Unterlagen lege ich erstmal auf den weißen Küchentisch und auch meine Tasche lasse ich auf einem der Stühle zurück.
Mein Kopf schnellt bei einem dumpfen Knall in Richtung Gang und im selben Moment kommt mir ein böser Gedanke.
"Xavier!"
Schneller als ich denken kann renne ich aus der Küche, durch den Flur, bis hin zur Badtür, die ich vergeblich versuche aufzureißen.
"Xavier?
Alles in Ordnung?
Was ist passiert?"
"Mary, ich..."
Seine zittrige Stimme bricht ab und die Panik in mir steigt.
"Kannst du aufschließen?"
Ich reiße beinahe die Türklinke aus und bekomme keine Antwort.
"Verdammter Mist!", murmle ich in mich hinein und stoße meinen Körper gegen die Tür.
Erst einmal, dann zweimal.
"Ich zahle das, Mum."
Beim dritten Mal werfe ich mich mit meinem kompletten Gewicht gegen die Tür, die noch im selben Moment nachgibt.
Manchmal hat es auch seine Vorteile in einem Land zu leben in dem scheinbar alles aus Pappe gebaut wurde.
Hektisch schiebe ich sie beiseite und knie mich zu Xavier, der vergeblich versucht sich an der Heizung hochzuziehen.
"Ich spüre meine Beine nicht mehr."
Obwohl es hier drin verhältnismäßig kühl ist, laufen ihm Schweißperlen die Stirn hinab und die bloße Angst ist ihm anzusehen.
Unsicher, was ich jetzt machen soll, dreht mein Kopf sich hin und her, um seinen Körper von oben bis unten anzusehen.
"Ich bringe dich auf das Sofa."
Mit einem wahrscheinlich viel zu hohen Puls greife ich ihm unter die Arme und versuche vergeblich ihn hochzuziehen.
"Das schaffe ich niemals."
Verzweifelt fahre ich mir mit der zitternden Hand durch die Haare.
"Ich rufe den Krankenwagen."
"Nein, kein Krankenwagen."
Entschlossen schüttelt er den Kopf und fängt an sich so hinzudrehen, dass er der nicht mehr in den Angel hängenden Tür den Rücken zudreht.
Ich verstehe was er meint, greife ihm erneut unter die Arme und ziehe ihn allerdings diesmal über das Parkett, anstatt ihn hochzuheben.
Als ich aus der Puste am Sofa ankomme, lehnt er sich an und ich helfe ihm seinen Oberkörper hochzuhieven.
Während er sich versucht oben zu halten, greife ich nach seinen Beinen und lege sie vorsichtig auf dem weichen Stoff ab, bevor ich mich neben ihm nieder lasse.
"Wir, wir müssen was tun. Der Arzt..."
Meine Stimme klingt genauso hektisch wie ich es bin und dass mir die Tränen kommen, bemerke ich kaum.
"Ich fühle wieder was", unterbricht er mich und mein Blick huscht zu seinen Beinen.
Sein rechtes Knie zuckt kurz und ich halte inne.
"Das Gefühl kommt langsam wieder."
Die Erleichterung ist ihm eindeutig anzuhören und ich sehe ihm wieder ins Gesicht, während mir ein Stein vom Herzen fällt.
Meine Mundwinkel ziehen sich minimal nach oben und ich falle ihm kaum eine Sekunde später, nachdem er die Arme ausgestreckt hat, um den Hals.
"Es kommt wieder", flüstere ich mir selbst zu.
"Das Gefühl kommt wieder."
Seine Hand fährt meinen Hinterkopf auf und ab und ich atme zittrig ein, während ich mich langsam aber sicher beruhige.
Er hat sich selbst eindeutig mehr unter Kontrolle als ich.
"Ich werde es selbst beenden", höre ich dann plötzlich seine leise Stimme an meinem Ohr.
Verwirrt hebe ich meinen Kopf und lehne somit über ihm.
"Was meinst du?"
"Ich werde mein Leben beenden, bevor es das selbst tut." 


Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now