16 - Angstzustand

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Der Kaugummi schmeckt nach nichts mehr, obwohl ich ihn erst vor einer halben Stunde angefangen habe zu kauen.
Meine Haare fallen mir ins ungeschminkte Gesicht und riechen immer noch nach Chlor.
Schwimmunterricht ist wirklich nicht meins.
Ebenso nicht, wie das gelbe T-shirt von dem Jungen vor mir.
Ich folge den Strichen darauf mit meinem Blick und fange an, sie auf den weißen Rand neben meinen Chemienotizen zu kritzeln.
"Misses Stone?"
Ich hebe den Kopf und blicke dem Professor, mit den verschränkten Armen, entgegen.
Die Augenbrauen hochgezogen und eine überlegene Haltung signalisiert mir, dass er denkt, ich hätte nicht zugehört und er mich nun ertappt hat.
Umso mehr muss ich grinsen, als ich antworte:"Sie bilden deswegen keine Moleküle."
Wie erwartet erscheint ein überraschter Gesichtsausdruck und er läuft wieder zur Tafel, um weiter etwas aufzuschreiben.
Kopfschüttelnd sehe ich wieder auf mein Blatt, um kurz danach nach links zu schauen. Doch der Platz ist leer.
"Er kommt überhaupt nicht mehr zu dem Kursen, die ihr beide belegt, oder?"
Addisons Flüstern braucht etwas mehr Zeit, bis es bei mir ankommt und auch mein Nicken lässt länger auf sich warten.
Ich weiß, dass es an mir liegt, aber ein kleiner Teil von mir hat die Hoffnung, dass er einfach nicht mehr kommt, weil ihm die Kurse nun auch nichts mehr bringen für die Zukunft.
"Er glaubt wirklich, dass du das warst."
Sie scheint eher mit sich selbst zu sprechen, trotzdem bestätige ich das und fange an, meine Sachen einzuräumen, als es zur Pause klingelt.
"Hat derjenige sich nochmal irgendwie gemeldet?"
Ich lasse den Strom an Schülern an mir vorbei ziehen und trete dann aus der Reihe, um den Raum zu verlassen.
"Nein.
Der Hacker scheint es bloß darauf abgesehen zu haben, einen Keil zwischen Xavier und mich zu treiben.
Mit Erfolg."
Ich nehme meine eigenen Worte gar nicht mehr richtig wahr, sondern schaue mich abwesend um, während ich nach Matt Ausschau halte.
Wobei, wahrscheinlich würde ich ihn nicht einmal sehen, wenn er fünf Meter von mir entfernt steht, denn irgendwie scheine ich alles zu sehen, aber nicht zu realisieren.
"Das wird bestimmt wieder", versucht sie mich aufzumuntern, während sie hinter mir steht, da hier kaum Platz ist.
Ich lasse sie kaum aussprechen, sondern drehe mich blitzschnell zu ihr um.
Auf einmal bin ich wieder komplett bei mir, genau wie meine Energie.
"Dafür ist aber keine Zeit, Addison.
Wann wird das wieder?
In einer Woche?
In zwei?
In drei Monaten?"
Ich bin von dem einen auf den anderen Moment total hysterisch und achte gar nicht mehr auf mein Umfeld aus Schülern und Lehrern, die zu spät zum nächsten Kurs kommen.
"Ich habe keine Zeit für sowas, er hat keine Zeit dafür."
Zitternd fahre ich mir durch die Haare.
"Es setzt mich so unglaublich unter Druck.
Ich habe das Gefühl, ich muss sofort in seinen Kurs stürmen und ihm alles sagen, was mir einfällt, bevor er mich verlässt."
Tränen steigen mir in die Augen, mir wird unter dem Pullover total warm und ich versuche krampfhaft mich zu beruhigen.
Ich denke an den Erfolg, als ich dem Professor doch die Antwort geben konnte und an das grässliche gelbe T-shirt, aber es hilft nichts.
"Hey, hey.
Beruhige dich."
Meine beste Freundin schließt mich in die Arme und hat eine beruhigende Wirkung auf mich.
"Ich will nicht, dass er stirbt, und ich kann damit nicht umgehen.
So sehr ich mir auch wünsche, das Ganze nicht so negativ zu sehen, es geht nicht."
Meine Worte werden von einem lauten, verzweifelten Schluchzen unterbrochen.
Meine Knie wollen einfach nur noch nachgeben und meinen Körper auf den Boden sinken lassen.
Addisons Körper wird kalt, entfernt sich immer mehr. Ich kneife ängstlich die Augen zusammen.
Gehe einen Schritt nach vorne, aber niemand ist da.
Ich bin allein.
Mein Kopf spielt mir einen schrecklichen Streich.
All das, was sich die Zeit über unbemerkt angestaut hat, bricht nun aus und das ist es, wie ich mich in den letzten Wochen tief im Inneren immer gefühlt habe; wie es jeden Tag in mir ausgesehen hat und was in mir geschehen ist.
Ich bin zusammengebrochen, habe geweint.
Sinke zu Boden und fühle bloß noch die kalten Tränen auf meiner heißen Haut, die die kühle Verzweiflung und die intensiven Gefühle widerspiegeln.
Meine Gedanken haben mich ganz für sich und ich verliere jeglichen Bezug zur Realität.
Ich war noch nie jemand, der gut mit meinen Gefühlen umgehen konnte.
Die Dinge überrollen und überfordern mich viel zu schnell.
Hierbei liegt es auf der Hand; ich weiß nicht, wie ich mit der ganzen Situation, geschweige denn mit mir, umgehen soll.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, um das zwischen Xavier und mir zu klären und ich weiß auch nicht, wie ich in der Zukunft an seinen Tod denken soll, ohne zusammenzubrechen.
Jedes einzelne Haar an meinem Körper stellt sich auf und das ist das erste, was mir wieder versichert, dass mein Geist und mein Körper noch eins sind und ich nicht schon längst in den tiefen meiner Gedanken verloren gegangen bin.
"Schatz!"
Es klingt, als käme es aus einem anderen Teil dieser Schwärze, in der sich mein Kopf gerade befindet.
Als wärst du in deinem Zimmer und dein Vater ruft dich unten aus der Küche.
Ich will etwas zurück sagen, aber ich weiß nicht wie.
Wie sehe ich wieder Licht?
Ich habe keine Kontrolle mehr über nichts, aber eines weiß ich.
Ich weine immer noch.
"Tut doch etwas!"
Die panische Stimme versetzt auch mich in Hektik und ich will sofort die Augen öffnen und hier raus.
Wie auf einen Schlag tauchen Bilder von Xavier vor mir auf.
Er und ich im Café.
Er, als er im Krankenhaus liegt.
Sean, wie ich weinend mit ihm rede.
Xavier und ich auf der Bank.
Aaron, Addison, Sean und Matt zusammen mit mir.
Aber wo ist Xavier?
Ich sehe mich um, stehe auf einer Wiese. Ein Sarg.
Ein Grabstein.
Viele Menschen.
Xavier.
Tot.
Ich reiße die Augen auf und schnappe hektisch nach Luft.
Trubel und Lärm umgeben mich, als meine Mutter erleichtert ihre Arme um mich legt. Es war ihre Stimme.
"Oh Gott, Mary."
Wie lange war ich in diesem Angstzustand, dass jemand meine Eltern kontaktiert hat und sie hier her kommen konnten?
Mein rasendes Herz beruhigt sich langsam, meine zitternden Hände kommen zur Ruhe und ich reguliere meine hektische Atmung, während ich ein letztes Mal an das Bild von Xavier auf dem Friedhof denke.
Eine einzelne Träne bahnt sich den Weg von meinen weiterhin aufgerissenen Augen über meine Wange und lässt dieses Bild sich in mein Gehirn einbrennen.

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now