26 - Fortsetzung

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Was ist am schlimmsten?
Taub, blind oder stumm zu sein?
Du schließt die Ohren vor all diesen schrecklichen Geräuschen, vor all diesen schrecklichen Worten, die dich zerstören und dir zeigen, wie grausam manche Menschen sein können. 
Du musst keinen Lärm mehr von den schreienden Kindern, der lauten Musik oder den hunderten Autos hören.
Du bist für dich allein und hörst nur noch deine eigenen Gedanken.
Du schließt die Augen vor all diesen schrecklichen Anblicken, vor all diesen schrecklichen Bildern, die dich runter ziehen und dir zeigen, wie grausam diese Welt sein kann.
Du musst keine Menschen mehr sehen, die dem Tod ins Auge blicken oder den Sarg deines Familienmitglieds auf dem Friedhof sehen.
Du bist für dich allein und siehst nur noch deine eigenen Gedanken.
Du schließt den Mund, aber vor was?
Er ist zu und du kannst nichts mehr sagen.
Du musst die schrecklichen Bilder sehen und die schlimmen Worte hören, musst es aber über dich ergehen lassen.
Du musst den Schmerz und die Qualen stumm aushalten und kannst es nicht in die Welt hinausschreien.
Mit der Fähigkeit zu sprechen verlierst du aber vor allem eine Sache, nämlich dein persönliches Schutzschild.
Wann immer dich jemand zu unrecht behandelt, lügt oder etwas falsches in deinem Namen weitergibt, du kannst in dem Moment nichts dagegen tun.
Geschrieben wird es niemals dasselbe sein. Egal, ob es ein Ich liebe dich oder eine Beleidigung ist, es ist nicht das gleiche, denn eine wichtige Sache fehlt.
Die Ausdrucksstärke, die Gefühle.
Mit tiefen Augenringen, die ich versucht habe so gut wie möglich zu überschminken, laufe ich einen Tag später durch die Tür von Xaviers Krankenzimmers und begrüße ihn mit einem Guten Morgen.
Seine Antwort besteht aus einem einfachen Blinzeln und mehr werde ich wohl heute nicht zurück bekommen, denn durch die Taubheit seiner Arme ist er nicht in der Lage zu schreiben.
"Ich habe Catherine gefragt, ob sie mit kommen möchte, aber sie ist noch völlig am Ende."
Er senkt den Blick, bevor er seine Augen komplett schließt.
"Aber ich soll dir ganz viele Küsse von ihr ausrichten."
Während ich mich schräg gegenüber von seinem Bett auf einen Stuhl setzte, erwidert er mein schwaches Lächeln.
"Dein Gedankenbuch hat schon einen Ehrenplatz auf meinem Nachttisch", berichte ich lächelnd, während ich an meinem Armband die Anhänger hin und her drehe.
"Da du nur drei viertel des Buchs ausgefüllt hast, habe ich angefangen es zu vervollständigen."
Als ich meinen Blick hebe, hat er ein ehrliches Lächeln auf den Lippen und nickt mir leicht zu, was mir signalisiert, dass er meine versteckte Frage verstanden hat.
Also öffne ich meinen beigen Rucksack und ziehe es raus, um kurz darauf die passende Seite aufzuschlagen.
Ich erkenne sie an der, im Gegensatz zu Xaviers, hässlichen Handschrift.
"Ich glaube nicht, dass ich bereit dazu bin, dich gehen zu lassen", lese ich den ersten Satz vor und habe ihn in dem Text bewusst mit Du angesprochen.
"Ich denke nicht, dass ich das so hinnehmen und akzeptieren kann, denn du wirst mir fehlen.
In jeglichen Situationen.
Ich werde mich nicht daran gewöhnen können, dich nicht mehr jeden Morgen in der Schule zu sehen, wenn ich den Kursraum betrete.
Ich werde mich nicht daran gewöhnen können, Sean allein zu sehen oder dich nicht mehr im Sportkurs zu sehen, wie du einen Korb nach dem anderen triffst.
Ich kann mich nicht daran gewöhnen, keinen deiner Sprüche mehr zu hören und nicht mit dir zu lachen, nachdem du mich genervt und provoziert hast.
Aber vor allem will ich mich nicht daran gewöhnen."
Als ich meinen verschwommenen Blick hebe, hat er ein unfassbar trauriges Lächeln auf den Lippen.
"Denn ich will dich immer sehen, jeden Tag.
Ich will dich mit Sean auf dem Gang sehen und ich will, dass du mich nervst, bis wir im Nachhinein darüber lachen.
Ich habe versucht mit dieser Diagnose umzugehen, aber es geht nicht.
Ich werde ins Krankenhaus gestürmt kommen und deine Mutter weinend vorfinden.
Ich werde den Arzt ansehen, während mir stumm die Tränen die Wangen hinunter laufen und wenn er mir sagt, dass du tot bist, werde ich mich auf den Stuhl fallen lassen, mich zusammenkrümmen, in der Hoffnung, dass der Schmerz dadurch erträglicher wird."
Mit einem großen Atemzug hebe ich den Kopf und streiche mir die Tränen aus dem Gesicht, während ich versuche, dass meine Worte in meinen Schluchzern nicht untergehen.
"Ich werde zu Hause sitzen und weinen, bis ich es irgendwann nicht mehr kann, und das ist der Punkt.
Die Zeit heilt keine Wunden, sondern nimmt dir bloß die Erinnerungen. Irgendwann wird dein Gesicht vor meinem inneren Augen verblassen.
Ich werde mich nicht mehr an deinen Duft, deinen Sprenkeln in den Augen, ihre Ausstrahlung oder die kaum erkennbaren Sommersprossen in deinem Gesicht erinnern.
Ich werde mich nicht mehr an den Schmerz erinnern, den ich bei der Nachricht deines Todes gespürt habe.
So sehr ich dich immer vor mir sehen will, so sehr ich kein Detail von dir vergessen will, es wird trotzdem geschehen.
Dagegen bin ich machtlos.
Irgendwann werde ich an dich denken könne, ohne zu weinen, ohne vor Schmerz nichts mehr zu spüren.
Ich werde an die weiße Decke meines Zimmers sehen, wenn ich im Bett liege, an dein verschwommenes Gesicht denken und die Augen schließen, bevor ich einschlafe, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen."
Er blinzelt und eine einzige Träne bahnt sich den Weg hinab.

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now