25 - Böse

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"Mary Stone."
Die Art wie Liam meinen Namen ausspricht, als er einen Tag später in der Cafeteria auf mich zu kommt, lässt in mir das Bedürfnis aufsteigen, ihn ganz schnell zu wechseln.
"Mir war ja gar nicht klar, wie ekelhaft mein Name klingen kann", erwidere ich, ohne ihm einem Blick zu schenken und setze meine Tasse an meinem Mund an.
Da Addison eine schlimme Grippe erwischt hat, kann ich nur Matt dabei beobachten wie er die Augen verdreht.
"Ich muss mit dir sprechen."
"Und ich muss dringender den Dreck unter meinen Nägeln hervorholen", sage ich entschlossen und will mich erheben, er drückt mich allerdings zurück auf den Stuhl, bevor er sich niederlässt.
"Ich will mich bei dir entschuldigen."
Kaum hat er ausgesprochen, muss ich schon kichern.
"Für zwei Sekunden habe ich wirklich darüber nachgedacht dir zuzuhören, aber das ist mir genug."
Wieder will ich aufstehen, doch er zieht mich am Handgelenk zurück und lässt auch meine Hand nicht los, als sie wieder, zusammen mit seiner, auf dem Tisch liegt.
Seine blonden Haare sind wie immer perfekt nach hinten gestylt und der Blick aus den tiefbraunen Augen erinnert mich stark an den von damals.
"Ich habe Scheiße gebaut.
Große Scheiße.
Ich kann nicht mal ansatzweise von dir verlangen, dass du mir irgendwie verzeihst. Ich habe alles kaputt gemacht und mich wie der letzte Arsch aufgeführt, aber ich bereue es so unendlich sehr.
Könnte ich eine Sache wieder rückgängig machen, dann wäre es das, was ich dir angetan habe.
Du bist so ein unendlich tolles Mädchen und hast sowas auf gar keinen Fall verdient.
Bitte denk darüber nach, vielleicht können wir irgendwann von vorne anfangen.
Es würde mir alles bedeuten."
Mit einem letzten intensiven Blick steht Liam auf und verlässt die Cafeteria.
Mit seiner Hand verschwindet auch das Ekelgefühl von meiner.
"Ich musste ihm beinahe in sein rosa Poloshirt kotzen", merkt Matt an und holt mich damit wieder ins hier und jetzt. 
"Glaub mir, mir erging es gleich", höre ich auf einmal Xavier, der sich vom Tisch hinter uns zu Matt und mir umdreht und Würgegeräusche von sich gibt.
"Seit wann sitzt du denn da?"
"Lang genug, um alles mitbekommen zu haben", antwortet er auf meine Frage und sitzt nun zwischen Matt und mir.
"Du denkst doch nicht gerade ernsthaft darüber nach?", fragt mein bester Freund fassungslos und stützt seine Ellenbogen auf dem grauen Tisch ab. 
Nachdenkend zucke ich mit den Schultern. "Hat er dir mit seiner Schleimerei den Kopf ausgewaschen?
Ist doch offensichtlich was für ein Spiel er treibt.
Er versucht dich wieder um den Finger zu wickeln und dich dann erneut zu erniedrigen."
Xavier scheint Matts Verständnislosigkeit zu teilen und ich muss den Kopf über mich selbst schütteln.
"Böse bleibt böse, Mary.
Man lernt bloß es besser zu verstecken."
Und damit hat er Recht, denn Liam wird sich niemals ändern.

Mit dem Blick in den Wolken liege ich noch am selben Tag auf meiner Terrasse und schließe hin und wieder vor Müdigkeit die Augen.
Ist es schwierig, Selbstmord zu begehen? Ich denke, ich könnte das nicht.
Allerdings bin ich auch in keiner Situation, in der das mein Ausweg wäre.
Was muss das für ein Gefühl sein, vor dem Bett zu stehen und zu wissen, dass wenn man jetzt einschläft, nicht mehr aufwacht? Ein paar Tabletten zu nehmen und alles zu beenden?
Bald. Sehr Bald.
Bei der Erinnerung an seine Worte drehe ich mich zur Seite und starre die leere weiße Wand an, während ich mir die Tränen verkneife.
Er wird friedlich einschlafen, wie jeden Tag.
Er wird von der Müdigkeit eingeholt, wie jeden Tag und er wird, wie jeden Tag, in das Land der Träume reisen.
Aber er wird nicht wieder aufwachen.
Er wird nicht grübeln, wie wohl das Wetter am nächsten Tag wird und ob er im T-Shirt rausgehen kann.
Er wird sich nicht innerlich beschweren, dass er nur noch ein paar Stunden Schlaf hat, bis der erste Kurs beginnt und er wird sich nicht denken, dass er auf die nächste Klausur keine Lust hat.
Mein klingelndes Handy lässt mich zusammenzucken und ich greife danach, nachdem ich mir ein paar Tränen aus dem Gesicht gestrichen habe.
Eine mir unbekannte Nummer. 
"Hallo?"
"Mary, zum Glück.
Ich bin es, Catherine."
Xaviers Mutter klingt erleichtert, dass ich drangegangen bin, allerdings ist die Panik und die Nervosität nicht zu überhören.
Abgesehen davon, dass sie weint.
Innerhalb einer Sekunde sitze ich kerzengerade auf der Liege.
Ich scheine jedes Haar an meinem Körper zu spüren, wie es sich aufstellt.
Es schüttelt mich und ich habe beinahe nicht genügend Kraft dazu, mir ihre Nachricht anzuhören.
"Xavier, er... Ich bin im Krankenhaus, er, vorhin, wir sind..."
"Ich komme sofort."
Mein Handy landet auf den Steinplatten und hat nun wahrscheinlich einen oder mehrere Sprünge im Glas, allerdings interessiert mich das im Moment genauso wenig wie meine Eltern, an denen ich geradewegs vorbeirenne.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, allerdings bin ich da schon längst die drei Stufen in den Vorgarten runtergesprungen und habe das Tor aufgerissen, welches ich nun offen zurücklasse.
Es ist mir egal, dass ich in einer Jogginghose und einem mir eigentlich zu kleinen T-Shirt rumrenne.
Dass ich noch meine Hausschuhe und einen viel zu hohen Dutt trage.
Ich renne die endlosen Straßen entlang, laufe einige Passanten fast um und beschleunige immer mehr.
Ist er tot?
Voller Angst schnappe ich nach Luft, als wäre ich 10 Minuten unter Wasser gewesen und vergrabe meine Hände in den Haaren.
Er ist tot.
"Nein", sage ich total am Ende und würde am liebsten auf die Knie sinken, als sich das große Krankenhaus vor mir aufbaut. "Catherine", will ich rufen, aber es ist bloß ein Wispern, als ich mit verschwommenem Sichtfeld die Umgebung analysiere.
Als ich dann eine dunkelhaarige Frau entdecke, die bitterlich weinend auf einem Stuhl neben der Rezeption sitzt, bin ich mir sicher Catherine gefunden zu haben.
Sie muss schon eine Ewigkeit hier sitzen. 
"Lebt er noch?"
Allein die Frage zerstört mich innerlich und als sie aufsieht und antwortet:"Ich weiß es nicht.", scheine ich komplett zu zerbrechen.
Ohne ein weiteres Wort falle ich auf den Stuhl neben ihr, halte mir eine Hand auf mein Herz und versuche zu atmen.
Noch nicht.
Es darf noch nicht sein.
Ich habe noch so viel zu sagen.
Ich will ihn nochmal umarmen und nochmal mit ihm auf der Bank sitzen.
Nochmal mit ihm lachen und mich verabschieden.
Sagen, wie sehr er mir ans Herz gewachsen und trotzdem ein Idiot ist.
"Misses Thomson?"
Als würde der Arzt mit mir sprechen, reiße ich sofort den Kopf hoch und stehe innerhalb eines kurzen Moments neben Catherine, die den Mann hoffnungsvoll ansieht.
Er ist tot. Er lebt. Er ist tot. Er lebt.
Die beiden Sätze hallen durch meinen sonst leergefegten Kopf und ich werde beinahe verrückt.
"Er lebt."
Wie auf Kommando sinkt Catherine zurück auf ihren Stuhl, vergräbt das Gesicht in den Händen und fängt vor Freunde an erneut zu schluchzen.
"Danke, Gott. Danke."
Auch ich würde am liebsten auf die Knie sinken und jedem danken, der daran beteiligt war, dass er lebt.
"Das ist aber noch nicht alles", fährt der Mann mit den grauen Haaren fort und Xaviers Mutter erhebt sich, vom ersten Schock erlöst.
"Ihr Sohn hat einen sehr starken Schub erlitten.
Seine Beine sind komplett gelähmt und seine Arme ebenfalls, allerdings könnte das Gefühl in ihnen schon morgen wieder zurückkehren.
Die Beine sind jedoch dauerhaft ohne Gefühl."
Es fühlt sich an, als würde ich einen Backstein runterschlucken und bei jedem Atemzug drückt er ein Stück mehr auf meine Lunge.
"Ebenfalls hat ihr Sohn..."
Ich lasse den Arzt nicht aussprechen, sondern laufe schnellen Schrittes den Gang entlang, aus dem der Mann gekommen ist.
Im Hintergrund höre ich noch Catherine, die nach der Zimmernummer fragt und anschließend ihre Schritte, bevor sie mich einigermaßen einholt.
"Vorne links."
Ich folge dem beschriebenen Weg und klopfe einmal, bevor ich langsam die Tür öffne und ihn entdecke.
Mein Kopf schmerzt, mein Herz hämmert wie wild gegen meine Brust und ich greife langsam nach seiner rechten Hand, aus der ein Schlauch zu einer Maschine verläuft.
Catherine setzt sich an seine linke Seite und greift ebenfalls nach seiner Hand.
"Xavier?"
Ihre Augen sehen hoffnungsvoll zu ihrem Sohn und tatsächlich öffnet er langsam seine Augen.
"Du lebst", stelle ich erneut fest und muss lächeln, während ich mich an den Rand des Betts setzte.
"Hast du Schmerzen?", frage ich leise und eine Träne läuft an meinem Lächeln vorbei.
Er öffnet den Mund, seine Augen sind voller Erleichterung, aber es kommt nichts.
Er zieht die Augenbrauen zusammen und drückt meine Hand fester, aber es kommt einfach kein Wort raus.
Und dann wird es mir klar und trifft mich wie eine Faust ins Gesicht.
Das ist es, was der Arzt sagen wollte.
Wobei ich ihn unterbrochen habe, indem ich einfach losgegangen bin.
Das wollte er uns mitteilen.
Xavier kann nicht mehr sprechen.
Er ist stumm.

Das letzte halbe Jahr Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt