8 - Menschen

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"Sag mal, Addison", fange ich an und drehe mich auf meinem Stuhl zu ihr.
"Was ist aus Sean und dir geworden?"
Mit der Frage hat sie wohl nicht gerechnet, denn sie öffnet überrascht ihren Mund, antwortet allerdings erstmal nicht.
"Ich weiß es nicht.
Wir schreiben noch hin und wieder, aber ich blocke eher ab."
Seufzend fährt sie sich über das Gesicht.
"Ich finde ihn sehr interessant, um es so zu sagen, aber ich habe Angst, dass er mega das Arschloch ist.
Du weißt schon was ich meine."
Damit will sie wohl die Sache mit dem berüchtigten Liam McNamara andeuten, aber über diese Geschichte will ich jetzt nicht reden.
"Ich denke du solltest dich mal wieder mit ihm treffen."
Diese Worte scheinen sie noch mehr zu überraschen als meine Frage vorhin.
"Was ist passiert, dass ausgerechnet du jetzt sagst, ich soll ihn besser kennenlernen?"
Da ich von Anfang an gegen das mit Sean und ihr war, kann ich ihre Verwirrung nachvollziehen, allerdings ist mir Sean gestern extrem sympathisch geworden, als er zu mir auf die Mauer gekommen ist und ich denke, dass mehr dahinter steckt.
Genauso wie bei Xavier.
Genauso wie er es gesagt hat.
Der Schein nach außen täuscht, auch bei ihm.
"Ich glaube, dass er ein wirklich korrekter Typ ist.
Das Idioten Gehabe ist oft einfach nur Show", erkläre ich und blättere wahllos in meinem Buch rum, während wir auf die Professorin warten.

"Warum ist hier heute eigentlich so viel los?", beschwere ich mich und tippe mit meinen Fingernägeln auf dem Tablett rum, als Matt, Addison und ich noch am selben Tag in der Cafeteria anstehen.
"Keine Ahnung.
Dienstags ist eigentlich nie so viel los", meint Addison schulterzuckend und spickt nach vorne, wie lange es wohl noch dauert.
Ich hebe meinen Blick wieder von meiner Armbanduhr und beobachte Xavier, wie er an der kompletten Schlange vorbei läuft und sich vorne zu Aaron und Sean stellt.
Mit offenem Mund lehne ich mich zur Seite, um an der Schlange vorbeizusehen.
"Beruhig dich, Mary.
Man merkt schon diese mit Wut geladenen Wellen, die du ausstrahlst", höre ich Matt hinter mir, allerdings ignoriere ich ihn gekonnt und stampfe nach vorne an den Leuten vorbei.
"Hey!"
Der braunhaarige dreht sich um und ich reiße ihm sein Tablett aus der Hand.
"Schummeln gibt's nicht, Mister ich kann machen was ich will."
Damit laufe ich los nach hinten und gehe an meinen Freunden vorbei.
"Wer hat dir denn ins Hirn gemacht?"
Xavier versperrt mir den Weg, reißt das Tablett und somit die Macht wieder an sich und stolziert zurück zu Aaron und Sean.
"Kannst du knicken!
Ich will heute auch noch was essen du egoistischer..."
"Wegen einer Person mehr vor dir wirst du nicht verhungern", unterbricht er mich mit einem genervten Ton und läuft weiter.
Kopfschüttelnd gehe auch ich zurück zu meinen Freunden, die mich schon erwarten.
"Ihr zwei seid echt schlimm", höre ich noch Addison murmeln.

Einige Tage später laufen Matt und ich gemeinsam durch die Schule, nachdem auch der letzte Kurs für heute vorbei ist.
"Tracy hat mir ihre Nummer gegeben."
"Du verarschst mich", antworte ich ruhig und werfe ihm einen wissenden Blick zu.
"Ja, mache ich, aber gut zu wissen, dass du so an mich glaubst", meint er gespielt beleidigt und wir stoßen lachend die Türen der Highschool auf, um auf den vollen Gehweg zu treten.
Freitag Mittag ist hier alles voll, wenn alle so schnell wie möglich nach Hause wollen.
"Also bis morgen und viel Spaß dabei Addison Nachhilfe in Spanisch zu geben."
Sichtlich amüsiert umarme ich ihn.
"Sie kann einfach nicht ruhig sitzen bleiben und nachdenken."
"Das musst du mir nicht sagen", grinst Matt und zieht seine Kopfhörer aus der Tasche, bevor sich unsere Wege trennen.
Tief durchatmend drehe ich mich um und laufe über den Parkplatz zu meinem Auto, als mir Sean entgegen kommt.
"Bis Montag", lächelt er im Vorbeigehen und ich wünsche ihm ein schönes Wochenende, ehe ich meinen silbernen Wagen entdecke und die Lichter einmal aufleuchten, als ich ihn öffne.
Summend greife ich nach dem Griff, ziehe die Tür auf und lasse mich auf den gemütlichen Sitz fallen.
Ich werfe meinen Rucksack auf die Rückbank und ziehe die Tür wieder zu.
Im selben Moment geht die andere auf und Xavier hockt sich auf den Beifahrersitz, bevor er die Tür schließt und mich ansieht.
In der Zwischenzeit habe ich mich zu ihm gedreht und einen verwirrten Gesichtsausdruck aufgesetzt, nachdem ich mich im ersten Moment erschreckt habe.
"Ich dachte du schon du wärst ein Entführer."
"Eher einfach nur faul."
"Faul weswegen?", will ich wissen und starte den Motor, da mir klar ist, dass er dieses Auto nicht verlässt, außer es steht vor seinem Haus.
"Ich habe gestern bei Aaron gepennt, bin dann mit ihm zur Highschool gefahren und habe somit kein Auto hier."
"Und du bist zu faul ein paar Minuten zu laufen", füge ich hinzu und parke geschickt aus.
"Sage ich ja", bestätigt er und öffnet das Fenster.
"Immerhin kannst du ausparken."
"Einparken ist eine andere Sache."
Sein Kopf dreht sich zu mir und unsere Blicke treffen sich, bevor wir anfangen zu lachen.
"Bieg' hier ab, wir gehen in ein Café."
"Ja, Xavier Thomson, ich würde liebend gerne mit dir auf ein Date", sage ich theatralisch, mache was er sagt und bleibe anschließend hinter einem parkenden Auto stehen.
Er begutachtet mich kritisch und mit verschränkten Armen von der Seite, als er vor dem Auto steht und ich noch meinen Geldbeutel aus meiner Tasche hole.
Nachdem ich die Tür wieder zugeknallt und das Auto abgeschlossen habe, laufe ich lachend auf ihn zu und boxe ihm einmal gegen die Brust, bevor ich weiter gehe und er mir folgt.
"Sehr lustig, Stone, wir belassen es bei wir gehen in ein Café."
"Jetzt sind wir also schon beim Nachnamen, Thomson", kichere ich wie eine Verrückte und falle dabei fast über meine eigenen Füße, was mich noch mehr zum Lachen bringt.
"Bist du betrunken?"
Kopfschüttelnd fängt er mich mehr oder weniger auf und stellt mich wieder auf beide Beine.
"Habe gute Laune getrunken", antworte ich und lache mich über meinen schlechten Witz kaputt.
"Scheiß auf das Café, so gehe ich da nicht mit dir rein", beschließt Xavier und schiebt mich die Straße entlang, weg von dem Café.
"Wo gehen wir dann hin?"
Mein Lachanfall scheint vorrüber zu sein und es bleibt ein Grinsen zurück.
Freitag macht einfach gute Laune.
Oder Xavier und seine Anwesenheit.
"Springfield hat doch ein paar schöne Plätze", meint er und ich beobachte die wenigen Menschen, die an uns vorbei ziehen.
Tatsächlich habe ich die letzten Tage seine Krankheit beinahe vergessen.
Xavier und ich haben sowieso nicht viel miteinander zu tun, vor allem die letzten Tage nicht.
"Ich hoffe du denkst über nichts schlimmes nach."
Ich zucke kurz zusammen und mein Kopf dreht sich zu ihm.
"Eigentlich denke ich..."
"Nein, sag es mir nicht."
Auch er dreht sich zu mir und erwidert meinen Blick.
"Gedanken sind das einzige, was man heutzutage noch für sich ganz allein hat.
Teile sie mit niemandem.
Manchmal muss man sich in seine eigene Welt denken, da soll keiner dran Teil haben."
Seine Worte lassen meine Mundwinkel nach oben zucken und ich sehe schnell weg, als ich bemerke, wie wir uns angestarrt haben.
"Solche Sprüche hätte ich nicht von dir erwartet", lache ich nervös, um meine Unsicherheit zu verstecken.
"Man erwartet vieles nicht", antwortet er monoton und die Anspielung auf seine Krankheit gefällt mir gar nicht.
"Und da wären wir."
Ich hebe wieder meinen Blick und entdecke erstmal gar nichts wirklich interessantes.
Es ist eine schmale Fußgängerzone, die relativ viele Leute anzuziehen zu scheint.
Hier ist um einiges mehr los als noch gerade eben beim Café.
"Wo wären wir?
Was ist hier?"
Fragend sehe ich mich um und treffe schließlich auf Xaviers Blick.
"Genau das ist es.
Es ist so unscheinbar, weil alle viel zu oberflächlich hinsehen."
Sein Tip ist erstmal nicht so hilfreich, als ich allerdings nicht die Menschen ansehe, sondern das was zwischen, über, unter und neben ihnen ist, sehe ich sie.
Gezielt laufe ich auf die so unscheinbare Bank zu, die vor einer kleinen Gasse steht.
Neben ihr ist ein kleines Blumenbeet und eine große Laterne.
Die Verzierungen an den Seiten schimmern Gold und sie scheint noch gar nicht so lange hier zu stehen.
Dass Xavier sich neben mich stellt, bekomme ich erstmal gar nicht richtig mit.
Erst, als er sich hinsetzt, sehe ich ihn an und lasse mich neben ihn fallen.
"Wieso magst du diesen Ort?", frage ich leise und werde selbst ganz hektisch, so wie die Menschen hier hin und her laufen.
"Weil du von hier aus den Blick für die wirklichen Dinge bekommst."
Wieder muss ich erstmal über die Worte nachdenken, bis ich es verstehe.
Für die Dinge, die nicht diese ganzen Menschen sind.
Mein Blick schweift nach oben und ich entdecke einen erstmal kahl wirkenden Baum, der allerdings einige schöne, rosa Blüten trägt.
Weiter rechts steht ein kleines Häuschen, dass ich noch nie zuvor gesehen habe.
Es scheint nicht mehr bewohnt und alt zu sein, allerdings erinnert es stark an ein Hexen Haus und ich muss darüber schmunzeln, da ich mir genau so die Häuser in Märchen vorstellen würde.
Die Leute scheinen auf einmal nicht mehr da zu sein und auch die Geräusche verschwinden, sodass ich selbst den kleinen Vogel höre, der neben der Bank auf dem Boden gelandet ist und sich umsieht, bevor er die Flügel wieder ausbreitet und über den Köpfen der Menschen hinweg fliegt.
Weg von der Hektik und dem Lärm.
"Es ist schön", sage ich und schaue lächelnd in den Himmel, bis ich den kleinen Vogel nicht mehr sehen kann.
"Kann ich dich mal was fragen?"
Etwas unsicher drehe ich meinen Kopf zu ihm und auch er sieht mich an.
"Wieso benimmst du dich so oft wie der letzte Vollidiot, wenn du auch so eine Seite hast?"
Die Frage scheint ihn überhaupt nicht zu überraschen, als hätte er schon längst meine Gedanken gelesen.
Dass ich mit Sean gesprochen habe und die Antwort eigentlich schon mehr oder weniger kenne, erwähne ich erstmal nicht.
"Ich will nichts mit Leuten zu tun haben, die nichts im Leben hinterfragen.
Das sind keine Leute, mit denen du eine tiefere Freundschaft aufbauen kannst und das brauche ich nicht.
Indem ich mich als Vollpfosten gebe, sortiere ich diese Menschen automatisch aus, denn sie hinterfragen es nicht.
Sie stempeln mich als Idiot ab und fertig.
Andere Leute lernen mich erstmal besser kennen, bevor sie urteilen.
Nehmen sich die Zeit, mal ein Gespräch zu führen.
Das sind Leute, die sich wirklich für dich interessieren.
Die anderen kicke ich direkt wieder aus meinem Leben."
Erst jetzt sieht er mich wieder an und erwidert meinen Blick leicht lächelnd.
"Und ich bin froh, dass ich das bei dir nicht machen muss."

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now