31 - Schweigen

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"Wann wirst du ihn lesen?", fragt Catherine und beobachtet mich, wie ich den Briefumschlag wende, auf dem in großen Buchstaben Mary steht.
Ich betrachte das weiße Papier, die Art, wie das y den Rest meines Names unterstreicht und das a aussieht wie eine zwei.
"Ich weiß es nicht."
Langsam hebe ich den Blick und hoffe, dass meine Augen nicht mehr so gerötet sind wie Catherines.
"Du?"
Sie zuckt mit den Schultern und betrachtet auch ihren Brief, auf dem in derselben Schrift Mum steht.
"Ich weiß es nicht."
Als sie den Blick hebt und mich mit diesen Augen ansieht, so verletzt, als würde ein Stück ihres selbst fehlen, scheint es mir erst zu hundert Prozent klar zu werden, was hier geschehen ist.

12 Stunden zuvor

Langsam öffne ich die Augen und sehe nur Schwarz.
Müde gähne ich und brauche einige Momente, bis ich mich erinnern kann, dass ich im Zelt liege.
Noch halb im Schlaf taste ich nach der Taschenlampe und betätige den Knopf.
"Xavier?"
Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und betrachte den leeren Platz neben mir.
Wie auf Knopfdruck bin ich hellwach und sitze gerade im Zelt.
"Xavier?"
Ich erwarte keine Antwort, aber vielleicht sitzt er bloß vor dem Zelt, weil er nicht schlafen kann und kann kurz daran rütteln, damit ich weiß, dass er da ist.
Als ich allerdings den Reißverschluss öffne und weder ihn, noch seinen Rollstuhl sehe, hämmert mein Herz laut gegen meinen Brustkorb.
"Beruhig dich, vielleicht ist er auf der Toilette", versuche ich mich selbst zu beruhigen und will nicht mal daran denken, was mir als Alternative in den Sinn gekommen ist.
Die kalte Plane unter meinen nackten Füßen ist hundert mal angenehmer als das, was sich gerade in meinem Kopf abspielt.
Ich will nach meinen Schuhen greifen, die hier draußen stehen, als ich auf einmal etwas anderes vor mir sehe.
Ein großer, weißer Briefumschlag mit dem Namen Mary.
In Xaviers Handschrift.
Ein Brief.
Ein Abschiedsbrief.
Diese Erkenntnis trifft mich wie in Messer mitten ins Herz und ich gehe langsam zwei Schritte zurück, als wäre der Brief ein bösartiges Tier.
"Nein", wispere ich, halte mir die Hand vor den Mund und sehe mich um.
Tränen laufen mir die Wangen hinab und ich habe das Bild vor mir, wie er von irgendeiner Brücke springt.
Dieser Gedanke versetzt mich in eine erneute Angst und ich lasse die Taschenlampe auf die Wiese fallen, bevor ich aus dem Garten renne.
"Catherine!", rufe ich, als ich nachts sturmklingle.
"Catherine!", kreische ich regelrecht und versuche, dass ich überhaupt noch irgendwas erkennen kann, während ich gegen die Haustür hämmere, bis meine Hände kaum ertragbar schmerzen.
"Mary?"
Gähnend und mit zerzausten Haaren öffnet seine Mutter die Tür und ich stürme rein.
"Er ist weg."
Ich halte mir die Hände an die Stirn und drehe mich langsam um die eigene Achse, während ich versuche, meine Atmung zu beruhigen.
Und dann komme ich an den Punkt, dass ich aufhöre zu schreien.
Dass ich ruhig werde und keine Panik mehr spüre.
Ich komme in diese Trance, denn ich weiß ganz genau, dass es zu spät ist.
Dass ich zu spät komme und ich nichts mehr tun kann.
Dass der Weg zu Ende gegangen ist.
"Das war also das Geräusch, welches ich vor gut einer Stunde gehört habe."
Die Erkenntnis scheint sie komplett umzuhauen und sie rennt an mir vorbei an das Ende des Gangs.
"Xavier!"
Ihre Stimme ist so voller Panik, dass ich zusammenzucke, als sie die Tür zu seinem Zimmer aufreißt.
Das einzige, was ich sehe, ist Catherine.
Wie sie sich die Hände auf den Mund schlägt und einen Schritt nach hinten geht.
Die Augen weit aufgerissen und auf einen Punkt im Zimmer gerichtet.
Wie sie auf die Knie fällt und sich die erste Träne aus ihrem Augenwinkel löst.
Ich bemerke dabei kaum mich selbst, wie ich auf das Zimmer zusteuer.
Ich sehe den Vorhang im Zimmer, das Regal.
Und als ich dann direkt neben Catherine stehe, sehe ich ihn.
Ich sehe den Rollstuhl neben dem Bett.
Ich sehe das Pentobarbital, von dem er eine Überdosis genommen hat.
Ich sehe den Anscheidsbrief an seine Mutter, der neben ihm liegt.
Ich sehe die grüne Bettwäsche, aber vor allem sehe ich Xavier.
Ich sehe seine geschlossenen Augen und das friedliche Gesicht.
Den Kopf, der auf dem Kissen ruht und die Bettdecke, die seinen Körper bedeckt.
Eine letzte Träne löst sich beim Zwinkern aus meinem Auge und ich komme dem Bett langsam näher.
Meine Hand streckt sich wie von selbst aus und fährt über die raue Decke, bis hin zu seinem Kopf.
Wie in Zeitlupe berühren meine Finger seine Haare und ich streiche ihm eine Strähne aus der Stirn.
Der Weg ist zu Ende.
Ein Licht erlischt.
Ein Licht zwischen fast acht Milliarden anderen und doch ein so bedeutsames.
Für mich.
Ich schließe meine Augen und lasse mich auf dem Schreibtischstuhl neben dem Nachttisch nieder.
Der Schmerz, den ich fühle, ist anders als erwartet.
Ich dachte ich würde komplett weinend zusammenbrechen.
Ich würde schreien und toben und das tue ich auch, aber tief in mir drin.
Es ist ein Gefühl von Leere.
Es fühlt sich so leer an, dass ich nicht mehr weiß, wie man weint.
Wie man schreit und wie man zusammenbricht.
Es ist nichts mehr da.
Wie in Zeitlupe dreht sich mein Kopf nach rechts und ich beobachte Catherine, die weinend an der Bettkante sitzt.
Er hat sich selbst umgebracht und sich nicht persönlich verabschiedet.
Und das verstehe ich, denn ich hätte ihn aufhalten wollen.
Ich hätte ihn angefleht, noch ein paar Tage zu warten, denn auch wenn ich mich damit abgefunden habe, dass er gehen muss, wird es trotzdem immer weh tun und ich hätte trotzdem noch gerne ein paar Tage mehr gehabt.
Aber hier endet es nun mal.
Hier endet die Geschichte von einem Jungen und einem Mädchen, die sich zuerst nicht leiden konnten.
Die sich besser kennengelernt haben und die in so kurzer Zeit sich so vertraut geworden sind, durch so eine schreckliche Krankheit.
Eine unheilbare Krankheit.
Hier endet die Geschichte von dem Jungen, der an so viele falsche Personen geraten ist und das Mädchen deshalb zuerst nicht an sich ran lassen wollte.
Von dem Jungen, von dem man nie erwartet hätte, dass er so viel mehr in allem sieht.
Dass er sich solche Gedanken zu Themen wie das Leben nach dem Tod macht.
Es endet die Geschichte eines ganz besonderen Jungen, der einen so großen Einfluss auf das Mädchen hatte.
Einen positiven.
Und es endet auch die Geschichte des Mädchens, welches die Ganze Zeit an seiner Seite war.
Welches mit getrauert und mit gelacht hat. Des Mädchens, das zu ihm aufgesehen hat und lächeln musste.
Das immer sofort da war, wenn etwas passiert ist.
Das nie so recht wusste, wie sie mit all dem umgehen soll.
Es endet die Geschichte des Mädchens, welches ihn liebte und immer noch liebt. Denn jetzt weiß ich es.
Ich liebe ihn.
Über all die Monate entwickelte ich mehr und mehr Gefühle, aber ich war zu abgelenkt von dem ganzen Trubel.
Zu abgelenkt von der Zukunft, die ihm bevorstand.
Aber wenn ich könnte, würde ich nicht fünf Stunden zurück spulen und es ihm sagen, denn mein Bruder hatte Recht.
"..., aber manche Dinge müssen einfach nicht ausgesprochen werden und das sind die, die du am Ende der Tage immer noch in deinen Gedanken haben wirst."
Und das sind meine Gefühle für Xavier.
Es ist meine Liebe zu diesem Menschen, die wohl einfach ein Geheimnis bleiben sollte. Vielleicht hätte es alles nur noch schlimmer gemacht.
Vielleicht hätte er sie erwidert, vielleicht auch nicht.
Das werde ich niemals wissen.
Alles, was ich immer wissen werde, ist, dass es falsch gewesen wäre es ihm zu beichten. Ihm zu beichten, dass er die Person ist, die ich irgendwann neben mir auf dem Abschlussballbild haben will und einige Jahre später, irgendwann, auf dem Hochzeitsbild.
Es wäre falsch gewesen.
Einfach falsch.

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now