9 - Sorgen

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"Ein zweites Date mit Sean also", sage ich grinsend und werfe Matt ein zerknülltes Blatt Papier an den Kopf, als er den Kursraum betritt.
Um zu wissen, dass Addison rot wird, muss ich sie nicht anschauen.
"Guten Morgen, meine Herzblätter."
Matt lässt sich neben mir fallen und ich verdrehe lachend die Augen.
"Ich habe was von einem Date gehört?", fährt er fort und lehnt sich grinsend vor auf den Tisch, um Addison besser sehen zu können.
"Na super, jetzt werde ich schon von zwei verhört.
Wollt ihr vielleicht direkt nach dem letzten Kurs mitkommen ins Steakhouse?"
"Dann wissen wir ja, wo wir uns mit unseren Ferngläsern platzieren müssen", antworte ich grinsend auf Addisons ironische Frage und schlage Matt ein.
"Ihr habt echt einen Knall", lacht sie und dreht sich nach vorne, als der Professor den Raum betritt und sofort mit dem Stoff anfängt.
Allein die ersten fünf Minuten kommen mir vor wie eine halbe Stunde, aber ich schreibe fleißig mit und versuche aufmerksam zu bleiben.
Ich muss es einfach auf ein gutes College schaffen.
Während meine Gedanken dann zu allen möglichen Colleges abschweifen, schweift auch mein Blick umher und bleibt an Tracy hängen, die ebenfalls konzentriert den Professor beobachtet.
Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht und ich schaue kopfschüttelnd auf mein Blatt Papier, um weiter zu schreiben und nicht an Matts schlechte Sprüche zu denken.
Plötzlich ertönt ein Knall und ich reiße meinen Kugelschreiber, vor Schreck, über das halbe Papier.
Doch bevor ich mich über den Strich durch meine Schrift aufregen kann, schnellt mein Blick nach vorne auf die andere Seite der Sitzreihen und ich entdecke das Buch auf dem Boden, was den Lärm ausgelöst hat.
Allerdings ist das nur Nebensache.
Xaviers Arm zittert und bewegt sich unkontrolliert in schnellen Bewegungen hin und her, während auf seinem Gesicht das bloße Wort Panik zu lesen ist.
Der Professor eilt zu ihm, Sean springt auf, die Schüler werden unruhig und keiner weiß was los ist, außer Xavier und Sean.
Und ich.
Im selben Moment treffen Seans und mein Blick aufeinander und ich springe von meinem Platz auf, während alle anderen nicht wissen, was sie tun sollen.
Ich zittere und quetsche mich mit einem unklaren Blick an Addison vorbei, um zu Xavier zu rennen.
Sean zieht ihn hoch und ich greife ihm unter den anderen Arm, um ihm zu helfen.
"Wir bringen ihn raus", ruft er dem Professor zu.
"Ich hole den Krankenwagen."
"Nein, das machen wir", erwidert Sean auf seine Antwort und wir bringen ihn möglichst schnell aus dem Kursraum.
Direkt neben der Tür setzen wir Xavier auf einen Stuhl und ich knie mich vor ihn.
Er starrt mit großen Augen auf seine Hand, die inzwischen bloß noch stark zittert und manchmal hin und her schlägt.
Zugegebenermaßen bin ich total überfordert mit der Situation und versuche mich zu beruhigen, in dem mir total irrelevante Dinge in den Sinn kommen und ich mich frage, was ich heute Abend noch essen möchte.
"Es, es wird besser", stottere ich leise und nehme seine Hand zwischen meine.
"Lass es, Sean."
Dieser hebt den Blick und es ist komisch, Xavier mit so einer brüchigen Stimme zu hören.
"Bist du dir sicher?", will sich sein bester Freund erkundigen und steckt langsam sein Handy wieder weg, mit dem er eigentlich den Krankenwagen rufen wollte.
"Es geht schon", flüstert er als Antwort und begutachtet unsere Hände, ohne zu blinzeln.
Das war ein Schub.
Ein Anfall.
Einer von vielen.
Der Erste.
Ein harmloser und unwichtiger Schub, im Gegensatz zu den kommenden.
Jetzt hat seine Hand gezittert für wenige Minuten, aber wie wird es das nächste Mal sein?
Wird er das Gefühl in seinen Armen komplett los?
Werden seine Nieren aufgeben?
Wird er nicht mehr sprechen können?
Vielleicht kommt er in drei Wochen mit einem Rollstuhl zur Highschool.
Vielleicht kommt er in drei Wochen gar nicht mehr.
Vielleicht ist er auch tot.
Eine Gänsehaut bildet sich innerhalb einer Sekunde auf meinem kompletten Körper und ich zucke zusammen.
"Ist alles in Ordnung?"
Sean legt mir eine Hand auf den Rücken und ich sehe etwas benommen zu ihm auf.
"Du solltest wieder rein gehen, Mary.
Ich bringe ihn nach Hause, das ist genug für heute."
Langsam richte ich mich wieder auf und ziehe meine Hände von Xavier weg.
Als Antwort nicke ich bloß, drehe mich um und öffne die Tür.
Mit einem letzten Blick zu Xavier betrete ich den Kursraum und die Tür fällt hinter mir zu.
Ihm eine gute Besserung zu wünschen erscheint mir nicht als passend, denn es gibt keine Besserung.
Jetzt nicht und auch nicht in der Zukunft.

Das letzte halbe Jahr Where stories live. Discover now