6. Träume der Wahrheit und Vergangenheit, die ich nicht will

611 35 5
                                    

6. Träume der Wahrheit und Vergangenheit, die ich nicht will

»Dad!«, rief ich und sprang meinem Vater in die Arme. Er schloss sie herzlich um mich, lachte leise, als ich ihm in die Armbeuge zwickte, und setzte mich dann wieder vorsichtig ab.

»Hallo, meine kleine Prinzessin«, lächelte er. Und es tat mir gut, seine Stimme wieder zu hören. Es kam mir vor, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen, nur mit einer Erinnerung von ihm gelebt. Aber das war Unsinn. Hier stand er doch vor mir, groß und kräftig, die roten Haare unordentlich verwuschelt, was ein Zeichen seiner Überarbeitung war. Schon immer hatte er mich an einen überforderten König erinnert, der über sein Reich herrschte, und nicht genug Zeit für seine Tochter aufbringen konnte.

»Wo ist Mama?«, fragte ich und ließ mich wieder zurück ins weiche Gras fallen. Der süße Geruch von Blumen lag in der Luft, Pollen schwebten über das grüne Meer. Kichernd dachte ich an Luke, der Dank seiner Allergie wohl die ganze Zeit genießt hätte. Luke nieste wie ein kleiner Welpe.

Mein Vater beugte sich zu mir herunter, fischte mir Unkraut aus dem braunen Haar. Auch nach seinem langen Arbeitstag konnte ich sein Parfum noch deutlich riechen, das er einmal von Mum zum Geburtstag bekam. Vielleicht hätte er es noch einmal benutzt, ich wusste es nicht. Doch dieser Geruch würde mir auch noch Jahre später in Erinnerung bleiben.

»Hör zu, Prinzesschen, wir müssen nochmal ins Labor«, sagte er und bemühte sich um ein Lächeln. »Möchtest du schon einmal schlafen gehen?«

Blinzelnd sah ich in die Sonne. Es war Sommer, alles war noch in ein warmes Licht getaucht. »Die Sonne ist noch nicht untergegangen.« Vor Jahren einmal hatten meine Eltern und ich beschlossen, dass ich im Sommer erst im Bett liegen würde, wenn wir gemeinsam den Sonnenuntergang beobachtet hatten. Bisher hatten wir dies nicht ein einziges Mal getan, egal, wie oft ich sie an dieses Versprechen erinnert hatte.

»Tut mir leid, aber ich glaube, dass das wieder nichts wird«, sagte mein Vater. Es würde nie etwas werden. Dafür waren sie viel zu lange arbeiten, viel zu selten da. Dieser Tag war noch einer derer, an denen sie nicht erst mitten in der Nacht nach Hause kamen.

»Ich komme mit.« Kurzentschlossen stand ich auf. Hier, ganz allein wie jeden Abend, würde ich es nicht lange aushalten, ehe sich meine Langeweile zu Wort meldete. Natürlich, ich konnte fernsehen, vielleicht ein Buch lesen. Aber das war nicht das gleiche, wie mit meinen Eltern zu reden. Ich wollte ihre Stimmen hören, etwas Zeit mit ihnen verbringen. Ein seltsamer größter Wunsch, doch es war so. Auch wenn sie mir in jeder freien Sekunde, die sie mir spenden konnten, zeigten, wie sehr sie mich liebten, so war es einfach nicht das Gleiche, wie wenn ich einen ganzen Tag mit ihnen verbrachte.

Mein Vater seufzte leise, das hatte er offenbar bereits erwartet. »Na schön. Steig schon einmal ins Auto, ich muss noch etwas holen.«

Ich nickte nur und lief die Wiese herauf zum Haus. Wir lebten etwas abseits von New York auf dem Land in einem riesigen Haus, auf das mein Vater zusteuerte. Ich wiederum lief den Kiesweg entlang zur Garage, vor der unser Auto parkte. Meine Mutter lächelte mir flüchtig zu, als ich einstieg, dann wandte sie sich wieder dem Gespräch mit ihrem Telefon zu. Oder dem, der dran war. Wie auch immer.

Ich verstand das meiste des Gespräches nicht, es fielen ein paar Fachausdrücke, mit denen ich einfach nichts anfangen konnte, und zudem hörte ich nur das einseitige Gespräch meiner Mum. Das war ungefähr so informativ wie ein Selbstgespräch über irgendwelche Insider. Ich hörte, was eine Person sagte, konnte mir den Sinn jedoch nicht erschließen.

Den Kopf gegen die kühle Scheibe gelehnt, besah ich mir die Umgebung, während das Auto sich langsam in Bewegung setzte. Dad hatte offenbar ziemlich schnell das gefunden, was er holen wollte. Das Lächeln war mir vergangen. Auf Dauer war es einfach nicht zu schaffen, immer ein Dauergrinsen auf den Lippen zu haben, wenn man sich innerlich einfach nur leer und allein fühlte. Und dieses Gefühl würde sich auch in den nächsten Jahren nicht durch ein anderes ersetzen.

Jasmin Strange - Wir lassen Gras darüber wachsenWhere stories live. Discover now