19. Lebensweisheit: Wenn man den Kopf hängen lässt, wird man schwerer enthauptet

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19. Lebensweisheit: Wenn man den Kopf hängen lässt, wird man schwerer enthauptet

Hastig fuhr ich mir über die tränennassen Wangen. »Ich heule nicht«, schniefte ich nicht sonderlich überzeugend. »Ich wässere nur die Pflanzen ringsum. Die lassen ihre Köpfe so hängen.«

Jarek hob trocken eine Augenbrauen, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte aus einer seltsamen Mischung an Emotionen auf mich nieder. Amüsement, Mitleid – größtenteils wohl etwas wie Schadenfreude. »Na mit der trostlosen Miene, die du an den Tag legst, kann man ja gar nicht anders, als peinlich berührt zu Boden zu schauen.«

Ich meinerseits sah seiner Aussage wegen peinlich berührt zu Boden. Vermutlich war es kindisch, aber ich mochte es nicht, wenn man mich weinen sah; ich mochte es, andere zum Weinen zu bringen, bevorzugt Leute, die mich einmal kreuzweise konnten. Aber ich selbst hasste es, wenn man meine Tränen erblickte – dabei hatte ich sie als Kind immerzu zur Schau gestellt, damit meine Eltern sich irgendwie einfach kümmerten.

»Ich schaue nicht trostlos«, murmelte ich in mich hinein, nuschelte schon beinahe. Als hätte ich eine imaginären Bart oder würde mir den Mund mit meiner Würde ausspülen.

Jarek seufze dramatisch und ließ sich dann recht unelegant neben mich ins Gras fallen. Wie Luke nur wenige Minuten zuvor.

»Also«, sagte er, nachdem ich eine ganze Weile einen Grashalm gemustert hatte, wie er sachte im Wind hin und her schaukelte, hin und her, hin und her, »was ist los?«

»Nichts.«

»Wegen nichts heult man nicht.«

»Ich heule nicht, ich-«

»Schon klar, du bewässerst deine Wangen oder so, hab es schon verstanden«, unterbrach mich Jarek augenrollend und ehe ich auch nur die Gelegenheit hatte, den Mund zu öffnen, um ihn darauf hinzuweisen, dass meine Wangen sicher nicht bewässert werden mussten, fuhr er bereits fort: »Willst du dann erzählen, warum du nicht weinst?«

Ich fuhr mir mit dem Ärmel über die sicherlich roten Augen. »Wie meinst du das? Was soll ich da bitte erzählen?«

»Dann gibst du zu, dass du weinst?«

Stur verschränkte ich die Arme vor der Brust, reckte die Nase gen Himmel. »Nein.«

»Schön, wie auch immer.« Jarek seufzte tief und schob sich einen Grashalm zwischen die Lippen, um nachdenklich darauf rumzukauen. Vermutlich hielt er sich für cool oder geheimnisvoll oder so etwas, während er das tat. In mir warf es lediglich die Frage auf, wer wohl mit dreckigen Stiefeln über diese Wiese gelatscht war und welche Tiere ihr Geschäft wohl in unmittelbarer Nähe dieses Ortes zum Wald hätten vollrichten können.

Plötzlich fragte ich mich, warum ich überhaupt hier saß. Ich meine, Natur ist ja alles schön und gut, aber – ew. Kann man sich wirklich sicher sein, dass alles nur Erde ist?

»Du sagst einfach das, was dich in dieser Situation nicht zum Weinen gebracht hätte«, erklärte mir Jarek schließlich, als ich mit leicht angeekeltem, noch immer ein wenig verschwommenen Blick eine Weile auf die Erde neben mir gestarrt hatte. »Etwas, das dich zum Lächeln gebracht hätte.«

»Warum sollte ich dir das sagen?«

Jarek hob die Schultern, uninteressiert, gleichgültig, starrte in den Himmel hinauf. »Du kannst es dir auch einfach denken. Oder den Blumen erzählen, wenn du den Drang danach verspürst. Ist mir eigentlich völlig egal – ich weiß nur, dass es mir geholfen hat, zu reden, und wenn es schlussendlich nur Selbstgespräche waren.«

Jasmin Strange - Wir lassen Gras darüber wachsenWhere stories live. Discover now