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Wir fahren schon zehn Minuten. Zu lange. Viel zu lange. Ich wippe nervös mit meinem Bein und starre geradeaus, während Harry total entspannt zu sein scheint. "Halt an.", sage ich leise und sehe zu ihm. "Was?" Harry erwidert den Blick und runzelt die Stirn. "Halt an!" Sofort tritt er in die Bremsen und fährt rechts ran. Wie gut, dass auf der Landstraße um diese Uhrzeit kaum noch jemand unterwegs. Ein Unfall wäre jetzt das Letzte, was wir gebrauchen können.

Ich steige aus und fahre mir durch die Haare, atme tief durch und sehe zum Sonnenuntergang. Das passiert gerade wirklich. Es ist kein Traum. Das erste mal seit fast einem halben Jahr.

Harry steht auf der anderen Seite des Autos und sieht rüber. Die Sonne taucht sein Gesicht in ein sanftes Gold und lässt ihn nur noch mehr wie einen Engel aussehen.

"Du .. lebst also noch.", stelle ich fest und lege meine verschränkten Oberarme auf das Dach des Autos. Diese Distanz zwischen uns fühlt sich komisch an. Trotzdem war ich ihm schon lange nicht mehr so nah.
"Ohne deine Mutter nicht.", antwortet er kurz und beißt sich auf die Lippe. Sein Piercing ... es ist weg. "Wie meinst du das? Du hast ihr Leben gerettet." Harry nickt. "Sie hat versprochen dir nichts zu sagen. Beziehungsweise zu sagen, Jace hätte mich kalt gemacht. Das war der Deal. Und deine Mutter hat die richtige Entscheidung getroffen." Ich schnappe nach Luft. "Die richtige Entscheidung?! Ich habe für ein halbes Jahr geglaubt du wärst tot! Hast du eigentlich eine Ahnung was-" "Louis, wir kennen uns genau genommen eine Woche." Verwirrt trete ich vom Auto zurück. "Das tut doch gerade gar nichts zur Sache! Warum hast du mir nicht zumindest gesagt, dass es gut ging?!" Harry verzieht den Mund zu einem ironischen Grinsen. "Gut ging? Gut ging. Louis ... du hast keine Ahnung was ich durch gemacht habe. Du kannst es dir sicher nicht mal vorstellen. Ich habe jeden Tag versucht Jace davon abzuhalten zu dir zu fahren und dir das Genick zu brechen." Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Nein, ich will es mir nicht vorstellen. "Harry, es tut mir leid, dass du das alles durchgemacht hast ...", murmle ich und senke den Blick. "Ja ... es wäre für uns beide einfacher gewesen, wenn ich niemals auf diese Schule gekommen wäre." Seine Worte schneiden mir das Herz heraus und es fällt blutend auf den warmen Asphalt. Weil er im Grunde genommen recht hat. "Was willst du damit sagen ...", stottere ich und gehe um das Auto herum. Harry tritt weg vom Auto und hebt die Hände. Ich bleibe einige Schritte von ihm entfernt stehen. "Ich muss gehen. Ich müsste schon längst weit weg sein." Langsam schüttle ich den Kopf. "Du liebst mich, meine Mutter hat es mit erzählt.", versuche ich ihn wieder zu mir zu holen. "Das habe ich." Meine Augen füllen sich mit Tränen. "Ich weiß, was du hier gerade versuchst, Harry ... Du kannst dich selbst belügen, aber mich nicht. Was wird das, willst du mich damit beschützen?" Ich komme zu ihm und nehme seine Handgelenke in meine Hände. Er sieht mir in die Augen. "Du hättest dich nicht selbst geopfert, um meine Mutter zu retten, wenn ich dir egal wäre.", flüstere ich und beobachte, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammeln. Ich hab ihn. "Mach es mir nicht noch schwerer, bitte. Lass mich dich einfach nach Hause bringen. Leb dein Leben, finde den Menschen, der nicht vor sich selbst davon läuft und total abgefuckt ist. Such dir Sicherheit, Louis." Ich lege seine langen Atme um mich und kuschle mich an seine Brust. "Du bist meine Sicherheit.", murmle ich und spüre heiße Tränen, die in meinen Nacken fallen. "Ich kann nicht bleiben.", schluchzt er und legt seine Wange auf meinen Kopf. "Dann komme ich mit dir. Wo auch immer du hin willst, ich werde dich nicht alleine lassen." Er umarmt mich fester und beginnt letztendlich zu weinen.

Wir halten vor meinem Haus. "5 Minuten.", meint Harry und ich nicke. Meine Mutter steht schon in der Tür. Ihr ist die Trauer ins Gesicht geschrieben. Ich falle ihr in die Arme und sehe hinter ihr im Flur eine gepackte Tasche. "Mum, was-" "Gav hat mir erzählt, wer dich abgeholt hat. Mir ist klar, dass er nicht bleiben wird. Und wo er hingeht, wirst du hingehen." Ich trete zurück und kann mir die Überraschung nicht verkneifen. "Das Geld darin sollte erstmal reichen. Verspiel nicht sofort alles. Das College weiß Bescheid. Du kannst dich nächstes Jahr noch Einschreiben." Ich hole tief Luft. "Danke, Mum ..." Mit einem traurigen Lächeln zieht sie mich ein weiteres Mal an sich. "Seit vorsichtig. Und melde dich."

Und so sitzen wir in einem schwarzen Mini und fahren aus der Stadt, runter an die Grenze und auf die Fähre, die uns rüber an die Küste Frankreichs bringt. Wir stehen an der Reling und beobachten das dunkle Meer. Es ist kalt in dieser Nacht. "Wir sollten deiner Mutter ein Souvenir mitbringen.", scherzt Harry und legt den Arm um mich. "Wohin fahren wir eigentlich?", frage ich im Gegenzug. "Im Süden Frankreichs leben meine Mutter und meine Schwester. Jedenfalls haben sie das früher. Ich hoffe, dass sie noch da sind. Sie können uns helfen." Mir klappt die Kinnlade hinab. "Du hast Familie?" Er nickt. Ich hole tief Luft. "Na dann, auf nach Frankreich. Was auch immer wir jetzt machen. Wie bist du eigentlich entkommen?" Harry versteift sich neben mir. "Harry?" Ich drehe mich zu ihm. "Du kannst nicht weglaufen. Wir sind auf einem Schiff.", murmelt er und sieht zu mir hinab. "Ich habe Jace und seinen Bruder umgebracht."

Pretty in PunkWhere stories live. Discover now