4. Kapitel: Nathan

607 63 18
                                    


Mittwoch, 29. Juli

Wieder einmal lag ich wach und konnte nicht schlafen. Das war in den letzten Monaten schon lange keine Seltenheit mehr. Eigentlich war ich so müde, dass mir bereits die Augen brannten und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach endlich wenigstens für einen kurzen Augenblick dieser ganzen verrückten Geschichte zu entfliehen, doch selbst das war mir nicht gegönnt. Ich wusste genau, dass selbst wenn ich mich jetzt noch zwei weitere Stunden herumwälzen würde alle Versuche einzuschlafen vergebens sein würden. Dazu kannte ich diese unerbittliche Schlaflosigkeit schon viel zu gut.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und starrte mal wieder auf meinen Wecker. Mittlerweile war es schon halb vier und bald würde bereits wieder die Sonne aufgehen. So ganz war mir nicht klar, wieso ich nicht schlafen konnte, schließlich kam ich mittlerweile mit meinem neuen Job einigermaßen gut klar und hatte immer besser und besser gelernt damit umzugehen.

Einen stark entnervten Seufzer konnte ich mir nicht unterdrücken. Vor allem jetzt nicht, als ich versuchte meine Gedanken von diesem düsteren Thema auf etwas anderes zu lenken. Schlagartig kreisten sie um meine Nichte Sarah. Sie war am Abend noch ruhiger gewesen, als zuvor. Es war nicht leicht, überhaupt ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Naja, vielleicht war sie auch einfach noch erschöpft von der Reise gewesen, denn selbst ihr Lieblingsfilm, den ich eigentlich traditionell immer am ersten Abend ihrer Ankunft mit ihr schaute, hatte ihre Stimmung nicht heben können. Wir hatten uns die ganze Zeit nur angeschwiegen und immer wenn ich versucht hatte ein Gespräch zu beginnen, hatte sie meist nur knapp geantwortet. Wenigstens wollte sie, dass wir morgen nach Kona fuhren, damit sie etwas stöbern konnte. Das war auch eins der Dinge, die wir immer taten. Diesmal würde ich ihr alles bezahlen und ich hoffte sehr, dass damit das Eis zwischen uns brechen würde. Wir hatten uns einfach viel zu lange nicht gesehen.

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, konnte ich mich noch nicht einmal daran erinnern, wann genau ich eigentlich dann doch endlich kurz eingenickt war. Es konnten allerdings nicht mehr als ein paar Stunden gewesen sein, denn mein Kopf schmerzte und ich fühlte mich hundeelend. Die Sonne schien mir grell in die Augen, da ich vergessen hatte die Rollläden herunter zu lassen, doch mit einem Blick auf meinen Wecker stellte ich fest, dass es sowieso schon sehr spät war. Um genau zu sein zwölf Uhr mittags. Normalerweise schlief ich nie so lange und zunächst fragte ich mich, ob die Uhrzeit auf meiner Uhr wohl tatsächlich richtig war, aber das musste sie wohl sein. Innerlich verfluchte ich mich dafür, denn schließlich hatte ich Sarah versprochen, dass wir direkt nach dem Frühstück fahren würden. Wieso hatte sie mich nicht einfach geweckt? Langsam richtete ich mich auf und stellte fest, dass ich quer in meinem großen Doppelbett lag. Sehr seltsam, vermutlich hatte mein Geist das verarbeitet, was am letzten Abend passiert war, doch ich konnte mich an nichts erinnern. Hastig zog ich mir ein weißes T-Shirt über, das ich vor ein paar Tagen mal achtlos auf den Boden geworfen hatte und schnappte mir ein frisches Paar Boxershorts und eine meiner schwarzen Jeans. Noch im Halbschlaf fuhr ich mir durch mein Haar und versuchte es nicht ganz so schrecklich aussehen zu lassen.

Als ich die Treppe herunterging, sah ich sie bereits auf meinem Sofa mit einem Buch in der Hand sitzen. Das war früher schon so gewesen. Eine echte Leseratte durch und durch.

"Guten Morgen, Kleine", begrüßte ich sie und sah abwartend zu ihr hinüber, doch sie rührte sich keinen Millimeter und zeigte keinerlei Reaktion. Ich wartete noch kurz und schlurfte rüber in die Küche.

"Morgen ist gut", hörte ich sie dann doch endlich murmeln und trotz meines sehr guten Gehörs, hätte ich sie fast nicht verstanden.

"Es tut mir leid, okay? Du hättest mich ja schließlich auch wecken können, Sarah", sagte ich und sah erneut kurz zu ihr, während ich die Kühlschranktür öffnete. Wieder keine Antwort.

"Ich werde mich beeilen, ja? Mach dich doch schon einmal fertig, dann können wir sofort los", schlug ich schließlich vor, woraufhin sie erstaunlicherweise aufstand und nach oben trottete.

Es war wirklich ein seltsames Gefühl mal wieder hier in Kona die typische Shoppingmeile abzulaufen. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war es ebenfalls zusammen mit Sarah gewesen. Seit diesem Tag hatte sich eine ganze Menge geändert. Ich war eigentlich noch nie gerne shoppen gegangen. Welcher Mann tat das schon? Ihr zuliebe hatte ich aber immer Stunden hier verbracht und unzählige Tops, Shirts und Shorts auf ihre Bitte hin bewertet. Doch heute merkte ich ihr an, dass sie kein wirkliches Interesse mehr an all diesen Geschäften zeigte, die im Endeffekt doch immer das Gleiche verkauften.

Mittlerweile waren wir fast schon am Ende der Promenade angekommen und hatten seit bestimmt einer Viertelstunde kein einziges Wort getauscht. Ab und zu versuchte ich einen kurzen Blick aus meinen Augenwinkeln auf sie zu erhaschen, damit ich sehen konnte, was in ihr vorging, doch auch wenn ich ihr längere Blicke hätte zuwerfen können, wäre mir Sarah wohl genauso verschlossen und unergründlich erschienen. Gerade drückten wir uns an der Kirche und vielen eifrig fotografierenden Touristen vorbei, als Sarah unmittelbar vor dem Zebrastreifen einfach stehenblieb, sich zu mir umdrehte und mir fest in die Augen sah. Ich wäre fast in sie reingelaufen, bremste meine Schritte aber gerade noch rechtzeitig.

"Was ist mit deinem Rücken passiert?", schoss es so abrupt aus ihr heraus, dass ich zugegebenermaßen erst einmal schlucken musste. Ich war zu perplex um ihr zu antworten, also packte ich sie kurzerhand am Ellenbogen und zog sie mit mir auf die andere Straßenseite, wo sich ein kleiner Strandabschnitt unmittelbar vor dem Hafen erstreckte. Flüchtig sah ich sogar, wie eine Schildkröte ihren Kopf zum Luftholen aus dem Wasser streckte. Die Honus waren keine Seltenheit, oft sogar in Gruppen unterwegs.

"Was meinst du damit? Ich weiß nicht wovon...", begann ich schließlich, doch sie unterbrach mich so barsch, dass es mich mehr als nur überraschte, dass sie sich so anhören konnte.

"Lass mich los!", zischte sie schon und wandte sich aus meinem nicht besonders festen Griff. Ich sah mich zwar nicht um, doch ich spürte einige neugierige Augenpaare auf mir ruhen – noch mehr als zuvor.

Plötzlich sah ich wahrhaftigen Zorn in ihren Augen auflodern. Das kannte ich sonst nur von meiner Schwester. Sie kam eindeutig mehr nach ihrer Mutter. Auch wenn mich die Tatsache, dass sie so erzürnt war mehr beunruhigen sollte, tat ich mir schwer damit, ein Lächeln zu unterdrücken.

"Sag mal... Kommt mir das nur so vor oder spionierst du mir nach?", gab ich nach einigen Sekunden zurück. Normalerweise machte mir ein langer Augenkontakt nichts aus, doch in diesem Augenblick konnte ich ihrem Blick einfach nicht standhalten, also starrte ich nachdenklich auf das tosende Meer, welches immer kräftiger gegen die Promenade schoss und manche Besucher beim Vorbeilaufen bis auf die Haut durchnässte.

"Wer hat dir das angetan?", bohrte sie weiter. Ich kannte Sarah gut genug. Ich kannte meine Schwester gut genug. Sie ähnelte ihr in diesen Charakterzügen wirklich sehr. Sie würde nicht nachgeben. Ich überlegte mir, wie ich sie von dieser Thematik abbringen könnte und gleichzeitig fragte ich mich wirklich, wie sie von den Narben wissen konnte. Sie war aufgebracht und gleichzeitig besorgt wegen dem, was sie gesehen haben musste.

"Das spielt keine Rolle", antwortete ich seufzend und abweisender als beabsichtigt.

"Doch, Nate. Natürlich tut es das. Ich mache mir echt Sorgen um dich", gab Sarah wieder etwas mehr gefasst zurück und ich hörte, wie die Wut wieder der Besorgnis wich. In diesem Augenblick erkannte ich wohl zum ersten Mal ganz augenscheinlich, dass meine kleine Nichte mit ihren sechzehn Jahren wohl schon erwachsener war, als so manch anderer Teenager in diesem Alter. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.

„Seit wann trägst du eigentlich eine Waffe mit dir herum?", fügte sie, nachdem ich auch weiterhin beharrlich schwieg, noch hinzu und durchbohrte mich förmlich mit ihren fragenden Augen.

"Komm, lass uns nach Hause fahren", legte ich schließlich einfach fest, nachdem ich nun auf einmal deutlich das Gewicht meiner Pistole in meinem Holster unter der Jacke spüren konnte. Ich wollte sie an der Hand nehmen, doch sie zog diese bei der Vorahnung meiner Geste rasch weg.

"Nicht, lass mich", machte sie laut und deutlich klar. Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe, ließ sie aber gewähren. 

Keepers of Fate [abgeschlossen] #UrbanFantasyDonde viven las historias. Descúbrelo ahora