6. Kapitel: Nathan

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Mittwoch, 29. Juli

Ich war außer mir vor Sorge. Als ich nach meiner ausgiebigen Dusche nach unten gekommen war, war meine Nichte einfach verschwunden gewesen. Ich hatte überall nachgesehen, in jedem noch so kleinen Teil des Apartments, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Wo zur Hölle war Sarah bloß? Wir waren schließlich gerade erst wieder aus der Stadt zurückgewesen, als sie sich aus dem Staub gemacht haben musste.

Plötzlich stieg solch eine Wut in mir auf, dass ich den Griff um mein Whiskey Glas so sehr verstärkte, dass mir die Knöchel bereits schmerzten. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, sie hierher zu holen.

Gerade wollte ich mir noch ein Glas Whiskey einschenken, natürlich gegen meine Vernunft, denn eigentlich hatte ich schon längst genug, da meinte ich ein leises reibendes Geräusch hören zu können. Sofort hielt ich inne und lauschte. Ja, da war es wieder und es kam vom Flur. Jemand versuchte die Haustür möglichst leise aufzuschließen, mein Alkohol vernebeltes Gehirn spielte mir keinen Streich. Einerseits fiel mir ein großer Stein vom Herzen und zwar ein größerer als gedacht, doch andererseits wuchs meine Wut und mein Zorn fast schon ins Unermessliche. Ein schneller Blick auf die Uhr über meinem Fernseher sagte mir, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Eindeutig zu spät für ein Mädchen in Sarahs Alter, um noch unterwegs zu sein. Wenn Joanna davon wüsste, wäre ich längst tot. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie im Ernstfall noch grausamer sein konnte, als mein Arbeitgeber.

Ich vernahm, wie sie ihre Schuhe leise auszog und in die Ecke stellte. Vorsichtig schlich sie weiter den Flur entlang und in dem Moment, indem sie im offenen Wohnzimmer ankam, indem ich auf dem Sofa saß, macht ich das Licht mit einer Fernbedienung an.

„Ach, hallo! Schön, dass du mich auch mal wieder beehrst", begrüßte ich sie, ließ mich zurück in das so angenehm weiche Polster sinken und wollte einen Schluck aus meinem Glas nehmen, wobei ich enttäuscht feststellen musste, dass es bereits wieder leer war. Doch das kümmerte mich nicht weiter und schließlich sparte ich mir das überflüssige Glas, schmiss es hinter mich auf den kalten Marmorboden und hörte, wie es in tausende Teile zerbrach. Ein tiefer Schluck direkt aus der Flasche tat es schließlich ja auch. Wozu bitte ein Glas?!

Zunächst zuckte Sarah aufgrund meiner Anwesenheit erschrocken zusammen, doch dann entspannte sie sich wieder etwas und ihre Blicke durchbohrten mich fast. Obwohl ich mittlerweile schon fast alles doppelt sah, erkannte ich doch sehr gut, wie sie ihre Stirn runzelte und eine Augenbraue nach oben zog. So, wie sie es immer machte, wenn sie bei etwas stutzig war. 

„Ernsthaft? Du bist betrunken? Seit wann trinkst du denn überhaupt Alkohol? Du, als überzeugter Nichttrinker", sagte sie mit einer festen, wenn auch nicht vorbehaltlosen Stimme. 

„Wow, du stinkt schrecklich nach Whiskey", fügte sie mit einer deutlich hörbaren Abneigung hinzu, als sie vor mir zum Stehen kam und mir doch tatsächlich versuchte, die Flasche aus der Hand zu nehmen.

„Hey, weg da! Das ist meine! Du bist noch viel zu jung und... und natürlich rieche ich danach, wenn ich davon trinke, meine süße kleine Nichte Sarah", lullte ich mittlerweile fast schon und noch meldete sich irgendwo ganz weit in der Ferne mein Kopf, dass ich jetzt definitiv besser aufhören sollte, doch gleichzeitig konnte ich nicht. Es war wie ein Sog, der mich immer tiefer in seine Fänge zog und ich musste einfach erneut die Flasche an meine rauen Lippen setzen und einen so großen Schluck nehmen, dass ich fast würgen musste, während die brennende Flüssigkeit sich durch meine Kehle schlängelte.

„Ach, Sarah, sag mir doch lieber mal wo du eigentlich abgeblieben warst, hm? Ich habe mir... Sorgen gemacht, weißt du? Das kannst du deinem Onkel Nathan doch nicht antun, findest du nicht?", brachte ich, nachdem mir endlich wieder eingefallen war, weshalb ich eigentlich hauptsächlich gerade in diesem Zustand war, dann schließlich zur Sprache.

Keepers of Fate [abgeschlossen] #UrbanFantasyWhere stories live. Discover now