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Taehyung PoV

Langsam ließ ich meinen Kopf in das weiche Polster unseres alten Familienautos zurücksinken, als die ersten winzigen Regentropfen an der Fensterscheibe abperlten und haften blieben, nur um unmittelbar danach von dickeren Tropfen verdrängt zu werden, die sich mit den kleineren verbanden, ehe sie langsam ihren Weg über das beschlagene Glas fortsetzten.

Ich seufzte und richtete wehmütig meinen Blick nach draußen. Die tosende Metropole hatten wir schon längst hinter uns gelassen, die vielen bunten, blinkenden Lichter waren weiter freier Fläche, Bergen und Tälern, gesäumt von dunklen, dichten Wäldern, gewichen, der geteerte mehrspurige Highway wurde zur schmalen mit Schlaglöchern übersäten Landstraße.

Vereinzelt schlängelten sich Flüsse und kleinere Bachläufe durch die Landschaft und reflektierten die letzten Sonnenstrahlen, die sich scheinbar mühsam durch die dichte Wolkendecke drückten, als würden sie der Pittoreske dieses Landstrichs um jeden Preis etwas beisteuern wollen.

Am liebsten hätte ich meine Kamera gezückt, um den jetzigen Moment festzuhalten. Ich liebte diese Art von Sommergewitter, es wirkte beinahe, als würde sich die gesamte Atmosphäre verändern und ein Schleier aus Ruhe und Gelassenheit über alles legen.
Kaum zu glauben, dass wir uns vor wenigen Stunden noch in Seoul durch die hupenden Blechmassen gekämpft hatten und nun bereits an einem so friedlichen Ort angelangt waren. Hier könnte ich bestimmt einige schöne Fotos für mein Portfolio schießen.

Ich wandte meinen Blick von der sich vor mir erstreckenden Landschaft ab und fokussierte abermals die Regentropfen an der schmutzigen Scheibe, die munter ihren wilden Tanz mit sich selbst fortführten.

Ich werde Seoul vermissen, schoss es mir durch den Kopf und augenblicklich verspürte ich in meiner Brust ein leichtes Ziehen.

So sehr ich diese Stadt und ihre Einwohner manchmal verflucht hatte, so kam ich doch nicht umhin, mit einer gewissen Wehmut an die guten Seiten zurückzudenken. An meine Freunde, die mir vor meiner Abreise dutzende Male versichert hatten, mich so oft wie möglich besuchen zu kommen und mir jeden Tag zu schreiben.
An unser Stammlokal, in dem wir fast jeden Tag nach der Schule gewesen waren und uns auf den verschlissenen roten Polstern über Gott und die Welt unterhalten hatten, während wir einen Hirnfrost nach dem anderen erlitten, weil wir unsere Milchshakes wie immer viel zu schnell tranken.

Doch ich musste nach vorne sehen und rational bleiben. So sehr ich sie auch vermissen würde, ich konnte mir kein hagwon¹ in der Stadt leisten. Mein Vater verdiente nicht viel Geld und ich wäre selbst mit noch zwei weiteren Jobs neben meinem eigentlichen Nebenjob niemals auch nur annähernd auf die Summe gekommen, die solche Institute in der Metropole dafür abknöpften, um Oberschüler adäquat auf den suneung² und die von den Meisten angestrebte Hochschulausbildung vorzubereiten.

Das Bildungssystem hier in Südkorea war streng und strikt durchgetaktet, wenn du dem Druck nicht standhieltst und dich nicht durch deine Leistungen hervorheben konntest, bliebst du auf der Strecke.

Aber ich mochte mich nicht darüber beschweren, ich war schon immer ein sehr zielstrebiger Mensch gewesen und Herumjammern brachte mich meinem Ziel auch nicht näher, sondern nur harte Arbeit. Und ich für meinen Teil arbeitete sehr hart für meinen Traum. Ich wollte mir selbst und auch meinen Eltern einmal das Leben bieten können, was wir verdienten.

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Nur langsam nahm ich wahr, dass wir uns allmählich wieder der Zivilisation näherten; wir ließen das Ortseingangsschild hinter uns und ich sah die ersten kleinen Geschäfte und Häuser, in Reih und Glied umgaben sie die einzige Straße dieses Dorfs, sowie einige Fußgänger, die an den Schaufenstern standen, ausgelassen lachten und sich unterhielten, Spaziergänger mit ihren Vierbeinern an der Leine, ein paar Kinder, die sich – scheinbar ohne ersichtlichen Grund – im nahegelegenen Park hinterherliefen und versuchten, gegenseitig einen kleinen bunten Ball abzujagen; Eine typische Kleinstadt eben, wie man sie in Filmen und diversen Serien gesehen hatte, in denen sich die Nachbarn persönlich kannten, man sich beim Einkaufen im einzigen Lebensmittelladen der Stadt mit dem Vornamen ansprach, die Kinder aus der Nachbarschaft und das Eigene gemeinsam in den Kindergarten gingen und später dann auch zusammen in die Grund- Mittel- und Oberschule.

Eine Stadt, in der sich Klatsch und Tratsch wie ein Lauffeuer verbreitete und doch niemand den Mut hatte, es laut auszusprechen, sondern nur tuschelnd hinter vorgehaltener Hand der Freundin berichtet wurde, welcher Ehemann in der Nachbarschaft jetzt schon wieder fremdging oder wessen Kind auf die schiefe Bahn geriet, weil der befreundete Dorfsheriff es am Wochenende im Park mit ein, zwei Bier aufgegabelt hatte.

Mag sein, dass ich gerade voreilige Schlüsse zog, aber dies war mein ehrlicher erster Eindruck.

Wir fuhren weiter in das Dorf hinein, die schmale Straße wurde mittlerweile von großen alten Eichen gesäumt und der Abstand zwischen den Häusern am Straßenrand nahm wieder zu. Wir bogen in eine der abzweigenden Seitenstraßen ein, bis das Auto schließlich in der Auffahrt eines kleinen Mehrfamilienhauses zum Stehen kam.

Ich stieg aus und warf einen skeptischen Blick auf das Haus. Auf den Fotos hatte es nicht so heruntergekommen gewirkt. Aber was konnte man bei der geringen Miete, die wir nun zahlten auch schon erwarten?

Mein Vater, der offenbar meinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte, legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Na mein Kleiner, jetzt schau doch nicht so, von innen hat es einiges mehr zu bieten als von außen.« Er lächelte mir aufmunternd zu und auch meine Mutter, die nun in meinem Blickfeld aufgetaucht war, sah mich liebevoll an.

Ich sollte mich am Riemen reißen, sie tun das immerhin alles nur für mich, dachte ich mir, bevor ich noch einen letzten Blick auf die bröckelnde, triste Fassade warf, mich danach zu einem Lächeln zwang und das Haus betrat.

Die Wohnung war – zu meiner Überraschung – wirklich nicht so verkommen, wie der Anblick des Grundstücks den Anschein gemacht hatte. Es war cremefarbener Teppich verlegt, die Möbel bestanden zum Großteil aus hellem Eichenholz. Die Küche schien gut ausgestattet zu sein und das Appartement verfügte sogar über eine Gästetoilette.
Ich machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer, während ich alles nochmal eindringlich musterte.

Dort angekommen ließ ich zunächst einmal meine Taschen auf den Boden fallen und sah mich um. Ebenso wie in der restlichen Wohnung war dieses Zimmer mit hellem Teppichboden ausgestattet, die Wände waren weiß und der Schreibtisch, das kleine Bett und der Schrank wirkten modern. Blickfang war eindeutig das große Fenster, welches den Blick freigab über unseren Vorgarten bis hin zur Straße und der schönen Allee.

Ja, das würde schon gehen, sinnierte ich, ehe ich begann meine wenigen Besitztümer ordentlich zu verstauen. Ich wollte noch einiges Aufarbeiten, bis in ein paar Tagen die Schule wieder begann. Ich hatte nur noch ein Jahr Zeit, um nochmal mein Bestes zu geben, bevor ich dann den suneung² schreiben musste, der wohl über mein gesamtes weiteres Leben entschied. Überhaupt kein Druck also, lachte ich in mich hinein.


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¹ 학원 (rev. Rom. hagwon) sind privatfinanzierte Institute, die über 70% der südkoreanischen Kinder neben ihrer regulären Schulausbildung nach Ende des normalen Unterrichts besuchen als Vorbereitung auf den CSAT. Die Kosten für diese ergänzende Ausbildung sind in der Regel extrem hoch [bis zu 1,5 Mio ₩ (≈ 1000€) pro Kind jährlich] und führten nicht zuletzt innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft sogar zu einer Fluktuation der Geburtenrate

² 수능 (rev. Rom. suneung) ist eine Abkürzung für den College Scholastic Ability Test, welcher ein standardisierter Test ist, der am Ende der Oberschulausbildung folgt und eines der größten Aufnahmekriterien für die südkoreanischen Universitäten darstellt. Diese Prüfung wird in Südkorea als eine der Wichtigsten überhaupt angesehen, da er darüber bestimmt, welche Universität der Schüler besuchen können wird. Im Volksmund wird vom CSAT gesprochen als »the chance to make or break one's future«

DAS LACHEN DER TRAUERWEIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt