~ 20.3 ~

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Jeongguk.
Ich hatte ihn verloren.

Und das mittlerweile auch im buchstäblichen Sinne, denn seit Stunden suchte ich jeden Winkel dieses jämmerlichen Kaffs nach dem Jüngeren ab.

Nicht nur im bildsprachlichen Sinne war mir der Schwarzhaarige vor wenigen Stunden abhanden gekommen, sondern hatte es sich mir ebenfalls bereits zuvor in seinen Augen offenbart.

Sobald ich an die unheimliche Begegnung mit ihm zurückdenken musste, fuhr ein leichter Schauder durch meinen Körper.

Ich hatte den Jüngeren nicht wiedererkannt und obwohl dies nicht das erste Mal gewesen war, dass ich solch eine Wesensveränderung an ihm feststellen konnte, war es dieses Mal jedoch mit Abstand die Beunruhigendste gewesen.

Er hatte gewirkt wie ein völlig anderer Mensch. Als wäre er von einer Art bösem Geist besessen gewesen, hatte es ausgesehen, als sich seine Körperhaltung so schlagartig verändert und sich seine Miene von der einen auf die andere Sekunde so drastisch verdüstert hatte; selbst jetzt konnte ich noch die groben Berührungen spüren, die seine großen Hände auf meiner Haut hinterlassen hatten. Ich zauderte.

Ausgelaugt ließ ich mich schließlich auf die morsche Bank im Park nahe meiner Arbeitsstätte nieder, die Sporttasche mit meinen wenigen Besitztümern achtlos neben mir auf den Boden plumpsend.

Stumm beobachtete ich die ersten Sonnenstrahlen, wie sie beinahe schüchtern zwischen den dicht aneinandergereihten Bauten der Fußgängerzone unseres Dorfes aufblitzten und dem Mond, der in seinen letzten Zügen mittlerweile nur noch verblasst am tristen Himmelszelt stand, nahtlos seine Tätigkeit abnahmen.

Den Blick starr auf die saftige Grünfläche vor mir gerichtet, konnte ich staunend betrachten, wie die Sonne allmählich wanderte und ihre kräftigen Strahlen, vom frischen Morgentau, der die schmalen Grashalme unentwegt mit seinen glitzernden Tropfen beschwerte, gebrochen, den Rasen zu meinen Füßen in ein funkelndes Feld verwandelte, als hätte jemand unzählige winzige Diamanten verstreut.

Ich hörte die ersten Vögel, die fröhlich zwitschernd ihre Lieder trällerten, vernahm tonlos einige Eichhörnchen, die, im Schutze der letzten dunklen Stunden, eilig von Baum zu Baum huschten und sah die ersten Autos die einzige geteerte Straße dieses Kaffes entlangbrausen; nach und nach erwachte die bis dahin schlafende Stadt um mich herum, müde reckte sie ihre erschöpften Glieder, ehe jedes davon sich auch schon emsig an seinen Platz der Kette begab und fleißig seinem Treiben nachging.

Mit einem metallischem Rascheln wurden die ersten Fensterläden geöffnet, ausdruckslos und verschlafen blickten mir die wenigen Gesichter, die man bisweilen auf den Straßen entdecken konnte, entgegen; die ersten Worte wurden gewechselt, leise und heiser waren die Stimmen, die man vernahm, wenn man aufmerksam lauschte.

Menschen, die für ihre Großfamilie in den frühen Morgenstunden die besten frischen Brötchen ergattern wollten, Lieferanten in ihren tristen Einteilern, die, den Mundschutz und die dunkle Cap tief ins Gesicht gezogen, mit routinierten Bewegungen das frische Obst und Gemüse abluden, ehe sie auf die Quittierung ihrer Waren warteten, die ersten Schulkinder, die sorgenlos, als würde ihnen der aktuelle Wetterumschwung nichts ausmachen, mit kurzen Hosen und offenen Jacken die gepflegte, von Eichen gesäumte Allee entlang schlenderten; sie alle gingen einer festen Tätigkeit nach, sie alle hatten ein Ziel vor Augen und ich?

Ich saß auf dieser Parkbank, mit blutunterlaufenen Augen und durchgefrorenen Gliedern und betrachtete stundenlang das taumelnde Erwachen der sich vor mir befindlichen Stadt, anstatt mich endlich wieder zusammenzureißen und weiter nach Jeongguk zu suchen.

Ein tiefer Seufzer entwich meiner Brust und ich fuhr mir unwirsch zum unzähligsten Mal durch mein, mittlerweile schon vollkommen zerzaustes, Haar. Überall hatte ich den Jüngeren nun schon gesucht, ich war mit meinem Latein am Ende.

DAS LACHEN DER TRAUERWEIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt