1 | 𝐖𝐢𝐥𝐥𝐤𝐨𝐦𝐦𝐞𝐧

581 21 6
                                    

Ich weiß nicht, was ich im Moment fühlen soll.
Eigentlich ist mein Körper taub, nur meine Hände krallen sich in den lederbezogenen Sessel, sodass meine Knöcheln weiß hervor treten.
Der Zug rast mit hoher Geschwindigkeit über die Gleise auf den direkten Weg ins Kapitol.
Chan sitzt mir gegenüber und ist genauso schweigsam wie ich, während er aus dem Fenster starrt.
Mit einem Zischen geht die Tür auf und ein Mann mit braunen Haaren und heller Haut betritt das Abteil.
»Na hier ist ja eine super Stimmung.«, murmelt er und stolpert weiter zu dem Buffet, wo er sich einen kleinen Kuchen in den Mund schiebt.
Angewidert verziehe ich das Gesicht.
Er lässt sich in den Sessel neben Chan sinken und sieht von ihm zu mir.
»Habt ihr eigentlich überhaupt Mal mit einander gesprochen?«
Als wir keine Antwort geben, seufzt er und lehnt sich zurück.
»Mein Name ist Cyrian und ich bin euer Mentor.«
Langsam bewegt Chan den Kopf in seine Richtung und sieht ihn an.
»Er lebt ja doch noch.«, nuschelt Cyrian und hebt beeindruckt die Augenbrauen, während er auf dem Tisch nach den Süßigkeiten greift.
»Wie heißt ihr? Sorry, habe die Zeremonie total verpennt.«
Schmatzend sieht er Chan und mich an, doch ich bin noch nicht bereit etwas zu sagen. Der Schock sitzt tief in meiner Brust.
Chan räuspert sich und ich höre ihn zum ersten Mal sprechen.
»Mein Name ist Chan. Das ist Kira.«
Cyrian nickt und sieht zu mir.
»Kannst du nicht sprechen?«
Er klingt belustigt, doch ich unterdrücke meinen Hass und kralle mich mehr in den Sessel.
Wieder öffnet sich die Tür und die Frau von der Zeremonie stellt sich vor den Tisch.
»Ach wie schön. Ihr habt euch also schon kennengelernt. Mein Name ist Alenia und ich werde in der nächsten Zeit eure Beraterin und Stylistin sein, okay?«
Zögernd bekomme ich ein Nicken hin und erkenne, wie Cyrian schmunzelt.
Leck mich...
»Okay! Die Fahrt dauert noch eine Weile, aber spätestens heute Abend sind wir im Kapitol.«, quiekt sie und klatscht dramatisch in die Hände.
»Ihr könnt euch ausruhen. Zwei Zimmer mit Betten stehen bereit.«
Danach verlässt sie wieder das Abteil und auch Cyrian erhebt sich.
»Macht keinen Mist.«
Doch er sieht nur mich an, weshalb ich kurz die Augen verenge.

Die Stille kehrt zurück und mein Blick landet langsam auf Chan, der ebenfalls seine Augen auf meinen hat.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
'Hey'?
'Wie geht's?'
Ist auch blöd ...
Plötzlich erhebt er sich und geht zur Tür.
»Ich gehe Mal die Zimmer suchen.«, sagt er noch schnell, bevor auch er nach einem Zischen verschwindet und ich nun komplett alleine bin.
Super.
Nachdenklich sehe ich aus dem Fenster und beobachte, wie die Bäume an mir vorbei ziehen.
Mit jeder Sekunde entferne ich mich von meiner Familie und komme dem Tod näher...

×××

Schließlich hatte ich beschlossen, ebenfalls die Zimmer aufzusuchen und liege nun mit offenen Augen in dem Bett aus Seide.
Meine Gedanken finden keinen Anhaltspunkt, als ich mehrmals über die Situation nachdenke.
Was wird passieren?
Werde ich wirklich jemanden umbringen?
Ich schlucke und unterdrücke dieses taube Gefühl in meinem Körper.
Zitternd streife ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und setze mich auf.
Wie kann ich jetzt schlafen?
Zögernd schwinge ich die Beine aus dem Bett und laufe zur Tür, die sich mit einem Klicken öffnet.
Das Licht hat sich verändert.
Der schmale Gang ist in ein kräftiges Orange getaucht und als ich aus einem der Fenster sehe, erkenne ich die riesige Feuerkugel, die am Himmel langsam nach unten geht.
Überraschenderweise zucken meine Mundwinkel nach oben.
»Das ist manchmal das Einzige, woran ich noch glaube kann.«
Erschrocken gehe ich einen Schritt zurück und erkenne Cyrian mit einem Glas Whisky in der Hand an der Wand gelehnt.
Er nimmt einen Schluck und sieht weiter starr nach draußen.
»Was meinst du damit?«, frage ich langsam und er schaut mich an.
»Deine ersten Worte.«
Er lächelt, doch geht sofort auf meine Frage ein.
»Wenn ich mir den Sonnenuntergang ansehe, glaube ich immer, dass es einen Morgen geben wird, da die Sonne wieder auftauchen muss. Sie kann nicht verschwunden bleiben.«
Zuerst verstehe ich seine Worte nicht, doch als sie mir klar durch den Kopf gehen, nicke ich verständlich und sehe wieder aus dem Fenster.
Das werde ich mir auf jeden Fall merken...
»Ist es schlimm?«
Mein Blick landet wieder auf Cyrian, der erneut einen Schluck nimmt.
»Was?«, fragt er, nachdem sein Gesicht sich kurz verzerrt hat.
»Das Töten.«
Eigentlich weiß ich schon eine Antwort darauf, aber da ist das Problem.
Ich weiß meine Antwort darauf.
»Am Anfang, ja. Doch wenn du irgendwann fünf umgebracht hast, willst du einfach nur noch weg und würdest alles machen.«
Seine Worte jagen mir Angst ein, doch eigentlich hat er Recht.
Ich will einfach nur noch weg.
Nickend drehe ich mich wieder zum Fenster und sehe hinaus.
»Kira, du hast etwas, was ich bewundere.«
»Was denn?«
Neugierig strecke ich ihm den Kopf entgegen.
Nachdenklich sieht er mich an und beginnt zu Lächeln. Der Alkohol setzt langsam an.
»Das weiß ich noch nicht.«
Pfeifend verschwindet er hinter einer Tür, während ich mich wieder zum Fenster wende.
Die Sonne ist fast verschwunden und bald wird die Dunkelheit über das Land ziehen.

»Sie kann einfach nicht verschwunden bleiben.«

Cyrians Worte brennen sich wie ein Mantra in meinem Kopf und ich runzle die Stirn.
Was wäre, wenn die Sonne einfach wegbleiben würde?
Die Menschheit wäre blind.
Nein...Es würde kein Morgen geben.

Ein paar Meter weiter geht eine Tür auf und Chan kommt aus dem Abteil.
Als er mich sieht, bleibt er kurz stehen.
»Glaubst du, dass die Sonne einfach verschwinden kann?«
Ich weiß nicht, warum ich ihn das frage, aber irgendwie will ich seine Antwort darauf wissen.
Chan runzelt kurz die Stirn, kommt dann auf mich zu und stellt sich neben mich.
»Ich glaube, wenn die Sonne verschwindet, dann gibt es keinen Grund mehr aufzustehen.«
»Nur weil es dann kein Morgen mehr gibt?«, hake ich nach und lege die Stirn in Falten.
Er schüttelt mit dem Kopf und nickt nach draußen.
»Nein, weil mit der Dunkelheit die Farben verschwinden und ohne Farben es keinen Sinn ergibt zu Leben.«
Als ich seinem Blick folge, erkenne ich die letzten orangenen Strahlen, bevor es in einem Lila und schließlich in einem dunklen Blau verschwindet.
Er hat Recht.
Verblüfft hebe ich kurz die Brauen, bevor ich mich umdrehe und im Zimmer verschwinde.

×××

Ich habe nicht geschlafen, als Alenia in das Zimmer gekommen ist, um mich zu holen.
Wir haben uns alle wieder in den Raum mit den Sesseln versammelt und ich stehe dicht neben Chan am Fenster.
Das Kapitol erstreckt sich genau neben einen großen Wasserfläche und als wir in den Bahnhof einkehren, jubeln und schreien Menschen mit bunten Frisuren, Gesichtern und Kleidern herum.
Vorsichtig hebe ich die Hand, um zu winken, was die Meute noch mehr zum Toben bringt.
»Seht ihr. Sie lieben euch jetzt schon.«, lächelt Alenia und geht langsam zur Tür.
Der Zug wird langsamer und erst als er stehen bleibt, realisiere ich, dass wir mehrere Stunden unterwegs waren.
Zischend geht die Tür auf und die Schreie werden lauter.
Ein unbekannter Duft von mehreren Parfüms und Chemikalien steigt mir in die Nase und ich verziehe das Gesicht.
Was atmen die hier?
Etwa tonnenweise Helium?
Als Chan und ich den Gang zwischen den Menschen entlang gehen, fühle ich mich plötzlich so klein und mir wird wieder bewusst, warum ich hier bin.
Ich werde töten...
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich unterdrücke die Tränen mit einem zaghaften Lächeln.
Etwas, was wie ein riesiger Karton aussieht, kommt auf einer Stahllinie heran gefahren und bleibt piepend stehen.
Cyrian betätigt das Display und die Türen öffnen sich.
Alenia schiebt Chan und mich herein und macht Platz für Cyrian, der sich sofort auf einen der kleinen gepolsterten Sitzbänke sinken lässt.
»Wo geht's jetzt hin?«, erkundigt sich Chan und setzt sich ebenfalls.
»Zu euren Appartements, wo ihr die nächsten Tage schlafen werdet. Tagsüber verbringt ihr den Tag beim Training, also plant nicht zu viel.«, sagt Alenia und richtet ihre grasgrüne Perücke.
»Am Ende wird es eine Abschlussprüfung geben, wo ihr eure Stärken beweisen müsst und sucht euch auf jeden Fall auch Verbündete. Umso mehr, umso besser.«, räuspert Cyrian und richtet seine Jacke.
»Desto mehr, umso mehr müssen wir töten.«, murmelt Chan, während sein Blick starr auf den Boden gerichtet ist.
Cyrian schüttelt den Kopf.
»Nicht alle werden eure Freunde sein. Und die, die nicht eure Freunde sind, kämpfen auch gegen euch. Dabei werden manche sterben.«, erwidert der braune Schopf Schulterzuckend.
Ich gebe einen kurzen Lacher von mir und verschränke die Arme.
Alle Augen landen auf mir.
»Das wird aber nicht so leicht werden, jemanden um zu bringen. So wie du es sagst, klingt es wie ein Klacks, doch das ist es nicht. Ich will niemanden umbringen und schon gar nicht "Freunde".«

Der Metallkarton saust um eine Ecke und gelangt an die Oberfläche.
Menschen sehen uns hinter her und beginnen breit zu Grinsen, bevor sie wieder in das Gespräch fallen.
Auf meinen Vortrag geht niemand mehr ein, doch das verstehe ich, da ich eh nicht mehr zuhöre.
Dicht am Fenster stehend, starre ich nach draußen, wo sich riesige Gebäude verschlingen und Wege einfach so im nichts enden.
Chan steht ebenfalls verblüfft heben mir.
Kichernd ertönt Alenias Stimme hinter mir.
»Willkommen im Kapitol, Tribute von Distrikt 7.«


⁰¹ 𝐡𝐮𝐧𝐠𝐞𝐫 𝐠𝐚𝐦𝐞𝐬 ━ kpopTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang