Kapitel 1

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Ich sitze am Strand, lausche den Wellen und beobachte das kleine Segelboot, das auf dem Wasser treibt. Eigentlich sollte ich jetzt zu Hause sein und mich fertig machen, denn es ist ein ziemlich wichtiger Tag, aber auch ein nervenzerbrechender. Am Strand komme ich nunmal am besten zur Ruhe. Hier fühle ich mich sicher. Doch das Gefühl dauert nicht lange an, denn ich vernehme den Gong der Glocke am Platz. Das Zeichen dafür, dass wir uns dort ansammeln sollen. Und hier stehen wir nun. Allesamt auf dem Platz von Distrikt 4 verteilt. Obwohl es schon mein 3. Jahr ist, in dem ich hier stehe, habe ich noch ungeheure Angst vor diesem Tag, der einmal im Jahr stattfindet- der Tag der Ernte. Suchend, halte ich Ausschau nach meinem Bruder, doch ich kann ihn nicht entdecken. Er muss wohl zu weit hinten stehen, sodass er mit seiner kleinen Größe in der Menge verschwindet. Ich stehe neben den anderen 15 jährigen Mädchen und versuche die Ruhe zu bewahren. Es wird gerade der alljährliche Film über die Hungerspiele gezeigt, doch ich beachte ihn gar nicht, denn ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Der Name meines Bruders ist zwar nur 2 mal im Lostopf, doch trotzdem besteht die Chance, dass er aufgerufen wird. Mein Name befindet sich ca. 4 mal im Lostopf, also besteht auch für mich die geringe Chance, ausgewählt zu werden. Ich merke, wie ich beginne auf meiner Unterlippe herum zu kauen. Das tue ich immer, wenn ich nervös oder aufgeregt bin. Ich vernehme das Geräusch der hohen Absätze unserer Escorte und merke, dass der Film bereits vorbei ist. Die Frau betritt die Bühne: wie jedes Jahr trägt sie tonnenweise Make-up und ihre grelle neonblaue Perücke sitzt perfekt auf ihrem Schädel. Das Kleid ist für meinen Geschmack viel zu pompös und ihr Schmuck passt perfekt dazu.
Langsam schreitet sie zum Mikrofon: ,,Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu den 90. Hungerspielen! Wie jedes Jahr, beginnen wir mit den jungen Damen." Sie läuft auf die, von ihr aus, linke Seite der Bühne und lässt ihre Hand über dem Lostopf kreisen, bevor sie hineingreift. Prompt schnappt sie sich einen der versiegelten, kleinen Zettel, auf dem ein Name eines Mädchens stehen wird, welches sich in die Arena begeben muss. Zügig dackelt sie zum Mikrofon zurück und faltet vorsichtig den Zettel auseinander. Meine Hände beginnen zu zittern. In Gedanken spreche ich mit mir: ,,Du wirst sicher nicht ausgewählt, warum auch? Dein Name befindet sich bloß 4 mal in dem Topf. Es sind noch zu viele andere Namen, die womöglich aufgerufen werden könnten. Warum dann ausgerechnet du?" Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Es ist das blonde Mädchen, welches neben mir steht. Es sieht mich leicht fragwürdig an, doch dann wird ihr Blick besorgt. Ich kenne sie nicht und weiss auch nicht ganz, was sie im Moment von mir möchte. Auf einmal ertönt die Stimme unserer Escorte: ,,Komm Jane, du brauchst nicht schüchtern sein." Wie bitte, was? Warum kennt sie meinen Namen? Warum sollte ich überhaupt schüchtern sein? Was geht hier vor? Panisch schaue ich mich um. Alle starren mich an.. mit einem eher bemitleideten Blick. Sogleich verspühre ich eine raue Hand auf meiner Schulter. Ich fahre herum und sehe einen Friedenswächter, der versucht mich aus der Menge mitzunehmen. Ich wehre mich nicht und gehe voran. Er begleitet mich bis zur Bühne, dann soll ich die Treppen zur Bühne hinauf selbst besteigen. Die Escorte reicht mir die Hand und stellt mich rechts neben das Mikrofon. ,,Was ist los, Jane?", fragt sie mich etwas verwundert. Ich überlege kurz, was ich antworte, weil ich ja selbst nicht weiss, was gerade passiert ist. ,,Ich habe nicht mitbekommen, wie ich aufgerufen wurde.", antworte ich kleinlaut. ,,Nun ja, das kommt schon mal vor. Kommen wir zu den jungen Männern.", sagt die Escorte und watschelt hinüber zum Lostopf der Jungen. Diesmal will ich wirklich aufpassen, welcher Name aufgerufen wird, damit ich weiss, was mich erwartet. Ein paar mal kreist ihre Hand über der Schüssel und ruckartig schnappt sie nach einem Stück Papier und läuft zurück zur Mitte. Behutsam entfaltet sie den Zettel und verliest den Namen laut ins Mikrofon: ,,Cole Odair."
Aus der hinteren Ecke des Platzes erschallt ein lauter, verzweifelter Schrei einer Frau. Sofort erkenne ich die Stimme meiner Mutter. Ob sie das auch tat, als ich aufgerufen wurde? Ich muss erstmal begreifen, dass ich wohl gezwungen bin, mit meinem jüngeren Bruder in die Arena zu müssen. Langsam geht Cole vor zur Bühne. Die Escorte empfängt ihn freudig und stellt ihn mir gegenüber. ,,Herlich, die Odair Geschwister.", meint sie. Keiner von uns gibt ihr eine Antwort. Wir starren uns nur durchgehend in die Augen. Die Escorte erwartet eine Antwort, doch sie scheint darauf verzichten zu wollen und beginnt mit der Nachfrage Freiwilliger: ,,Irgendwelche Freiwilligen unter euch mutigen Mädchen und Jungen?"
Stille kehrt ein. Fest hoffe ich auf einen Aufruf eines Jungen. Ich will nicht, dass mein Bruder so etwas erleben muss. Ich wende leicht den Blick von seinen Augen ab und sehe in die Menge der Jungen. Ich erspähe meinen guten Freund Jacob. Er schaut mich ebenfalls an. Ich sehe ihn flehend an, dass er sich doch für Cole melden soll, doch er schüttelt nur sachte den Kopf. Ich weiss, er hat eine Familie, um die er sich kümmern muss, also verstehe ich seine Bedenken. Da sich niemand bereit erklärt, will unsere Escorte fortfahren: ,,Nun, wenn das so ist..." Plötzlich wird ihr das Wort abgebrochen: ,,Ich melde mich freiwillig als Tribut."
Zu meinem Glück, war dies deutlich eine etwas verunsicherte, männliche Stimme. Er tritt aus der Reihe und bewegt sich auf die Bühne zu. Die Escorte bittet Cole, die Bühne zu verlassen und seinen Platz wieder einzunehmen. Er wirft mir nochmal einen besorgten Blick zu, bevor er die Treppe hinunter geht und der Freiwillige die Bühne betritt. ,,Wie ist dein Name?", wird der Junge von der Escorte gefragt. ,, Levi Collins.", sagt er etwas unsicher. Die Kapitolsfrau flüstert uns beiden zu: ,,Na los, gebt euch die Hand." Levi und ich befolgen diese Anweisung und reichen uns die Hand. ,,Darf ich vorstellen, die Tribute aus Distrikt 4 der 90. Hungerspiele!", schallt die Escorte. Doch wie gewohnt, ertönt kein tosender Applaus. Das passiert nie. Einzig und allein bedeutet uns das Drei-Finger-zeichen alles, welches aus einem der hinteren Distrikte übernommen wurde. Es heisst so viel wie, dass die Leute Abschied nehmen, von geliebten Menschen. Schon seit Jahren, folgt dieses Zeichen bei der Ernte und kein Applaus.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWhere stories live. Discover now