Kapitel 24

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Nachdem wir die Gleise der Zugstrecke erreicht hatten und denen eine ganze Weile folgten, kamen wir endlich an der Stelle an, an der sich die Züge befanden. Der Bahnhof sieht ohne die vielen Menschen ganz anders aus.

Einige Jahre habe ich, gemeinsam mit meinem Bruder und unserer Großmutter, unsere Eltern zum Bahnhof begleitet. Es wimmelte von Friedenswächtern und umhereilenden Menschen.

Hier ist es still. Das Einzige was man hört, sind die Schritte von Neoh und mir.
,,Und was nun?", fragt er plötzlich. Den gesamten Weg über hat keiner auch nur ein Wort gesagt. Neoh war, ebenso wie ich, in seinen Gedanken versunken gewesen. ,,Wir müssen den Zug ganz vorn aufbrechen und ihn irgendwie in Gang setzen.", vermute ich und zucke mit den Schultern.
Die Tür des Zuges aufzubrechen war einfach. Selbst den Zug zum Laufen zu bringen, verlief ohne jegliche Komplikationen. Doch trotzdem passt mir das hier alles nicht so wirklich. Ich sollte an meine Familie denken. An meine Eltern, meinen Bruder. An Jacob. Doch meine Gedanken sind nicht bei ihnen und mein Gewissen schlägt mir damit mächtig auf den Magen.
,,Kommst du?", fragt er plötzlich. Er sitzt auf dem Fahrersitz des Zuges und winkt mich zu ihm. Ich steige in den Zug und lehne mich an eine der Wände in der Nähe des Fahrersitzes. ,,Weißt du wie man einen Zug fährt?", will ich wissen, obwohl ich mir die Antwort denken kann. ,,Nein, wieso? Beunruhigt dich das etwa?", fragt er und sieht mich provokant grinsend an. ,,Sicher nicht. Fahr los!", antworte ich lachend. Neoh betätigt den Startknopf des Zuges und mit einem lauten Poltern setzt er sich in Gang und im nu' hatten wir den Bahnhof hinter uns gelassen. ,,Was schätzt du wie lang wir bis nach Distrikt 4 brauchen?", erkundigt Neoh sich. ,,Ich schätze nicht länger als eine Stunde.", spekuliere ich. ,,Was wollen wir in der Zeit machen?", fragt Neoh plötzlich. ,,Wie meinst du das? Du musst den Zug steuern.", erwidere ich und lache kurz auf. ,,Ich meine, worüber wollen wir uns unterhalten.", sagt er.
Das verblüfft mich etwas. Welcher Mensch fragt denn, bevor eine Konversation beginnt, worüber man sich unterhalten wolle?
,,Erzähl mir doch etwas über dich.", antworte ich und sehe zu ihm hinüber, um seine Reaktion zu beobachten.
,,Was willst du denn wissen?"
,,Sag mir, wieso du unbedingt nach Distrikt 4 zurück willst."
Neoh's Kopf senkt sich leicht.
,,Chastity.", antwortet er stumpf.
,,Wer ist.." Neoh zieht die Bremse des Zuges und ruckartig wird der Zug langsamer. ,,Was machst du denn?", frage ich verwirrt, aber nicht wirklich aufgebracht darüber, dass er urplötzlich den Zug stoppt.
,,Ist es nicht ein komisches Gefühl sich mit jemanden zu unterhalten, ohne der Person dabei in die Augen zu sehen?", meint er und erhebt sich vom Fahrersitz. ,,Ich schätze schon?", antworte ich unsicher.
Neoh kommt zu mir hinüber und setzt sich an die Wand, an die ich angelehnt stehe. Ich beschließe mich ebenfalls zu ihm hinunter zu setzen, damit wir auf Augenhöhe sind.
,,Chastity ist meine einzige Freundin.", erklärt Neoh. ,,Als sie Distrikt 4 überflutet haben, sind wir zusammen davor geflüchtet. Wir rannten in den Wald an der Grenze zu unserem Distrikt, doch irgendwie haben sie uns entdeckt. Plötzlich kam von oberhalb der Bäume eine enorme Welle. Ich hielt ihre Hand so fest ich konnte, doch das Wasser war mächtiger. Die Wellen trugen sie von mir fort.", erklärt er. Ich hätte nie von Neoh gedacht, dass er seine Gefühle so vor mir preisgibt.
,,Ich versuchte ihr nachzuschwimmen, doch dann kamen sie plötzlich aus dem Nirgendwo und fielen über mich her. Friedenswächter. Sie fesselten meine Hände hinter meinem Rücken und dann.. Ein unbeschreiblicher Schmerz durchdrang auf einmal vom Hals aus durch meinen Körper. Sie mussten mir wohl irgendwelches Beruhigungsmittel gespritzt haben, denn wenige Sekunden später wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wach wurde, fand ich mich in irgendeinem vergitterten Raum wieder.", beschreibt Neoh.
,,Und nun denkst du, dass sie sich immer noch in Distrikt 4 aufhält?", frage ich. ,,Nun ja, wo sollte sie auch sonst sein?", antwortet er und ich kann ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Ich will gar nicht an die Enttäuschung denken, die ich womöglich ein seinen Augen sehen werde, falls sie nicht in Distrikt 4 ist.
,,Und du möchtest bestimmt wegen deiner Familie zurück nach Hause, stimmt's?", fragt Neoh. Ich nicke leicht und sehe dann zu Boden. Was wenn auch sie nicht mehr dort sind? Meine Mutter ist tot. Doch mein Bruder, mein Vater und Jacob könnten noch leben. ,,Neoh, können wir jetzt weiterfahren? Ich möchte ungern erst um Mitternacht ankommen.", meine ich leicht lächelnd und schaue zu ihm hinüber. Er steht auf, setzt sich zurück auf den Fahrersitz und fährt los.
Die Stunde bis nach Distrikt 4 verlief entspannt. Die meiste Zeit war es ruhig. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Neoh einschätzen soll. Zum Einen ist er aufgeschlossen, spielerisch provokant und eigensinnig, doch dann ist er auch nachdenklich, ruhig und ausgeglichen. Ich werde aus dem Jungen einfach nicht schlau.
Der Zug stoppt. ,,Ich nehme an, wir sind angekommen.", sagt Neoh und lächelt leicht, um die Stimmung etwas zu lockern. Ich habe es gesehen, wie mein Zuhause komplett zerstört wurde, doch Neoh hat es miterlebt. Er versucht sich nichts anmerken zu lassen, doch ich merke, dass die Situation ihn bedrückt. Die Tür des Zuges öffnet sich und mein Blick fällt sofort auf den Weg zum Distrikt. Der Bahnsteig liegt etwas außerhalb von der Stadt und wir müssen eine Weile bis dahin laufen. Doch am liebsten würde ich das Innere des Distriktes gar nicht erst erreichen wollen.
,,Jane? Können wir los?", fragt Neoh und sieht mich etwas besorgt an, da ich einfach starr in die Ferne schaue. Als Antwort, gebe ich ein leichtes Nicken von mir.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWhere stories live. Discover now