Kapitel 11

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,,Ich bin übrigens aus Distrikt 7.", erklärt Claire. Sie redet ununterbrochen von willkürlichen Dingen, die mich nicht ansatzweise interessieren. Das geht jetzt schon eine halbe Stunde so oder sogar noch länger. Langsam erreichen wir den Rand des Waldes. Ich sehe einige Felsen vor uns. Komischer Weise sind uns im Wald keine weiteren Tribute begegnet. Ob sie alle auf der anderen Seite des Berges, mit dem Füllhorn auf der Spitze, sind? ,,Duck' dich!", ruft Claire leise nach hinten zu mir. Ich krabbel lautlos zu ihr vor und verstecke mich ebenfalls hinten einem Felsen. Ich sehe, dass sich ein weiterer Tribut dort versteckt. Es ist ein Junge. Ich kann jedoch nicht erkennen, wer es ist oder ob ich ihn überhaupt kenne. Er sitzt einfach nur auf einem Stein und schärft seinen Schwert mit einem Messer. Warum hat jeder eine Waffe außer mir? Ich schaue zu Claire, die den Jungen durchgehend ansieht. ,,Kennst du ihn?", fragt sie mich ohne mich dabei anzusehen. Ich zucke bloß mit den Achseln, obwohl sie das wahrscheinlich nicht mitbekommt. ,,,Den machen wir fertig, oder?", meint Claire und sieht mich an. In ihren Augen schimmert Mordlust. Ich weiss nicht ganz, ob das für mich noch gutes verheisst. Sie erhebt sich leicht und möchte sich wahrscheinlich von hinten anschleichen. Ich schleiche ihr hinter her. ,,Bleib hier.", fordert Claire und drückt mich an den Schultern nach hinten, sodass ich an eine Felswand knalle. Bedächtig schleicht sie sich mit erhobenem Speer an den Jungen an. Ich beobachte sie versteckt hinter einem Stein. Sie hebt den Speer an und könnte jeden Augenblick zustechen, da dreht sich der männliche Tribut ruckartig um und wehrt ihren Speer mit seinem Schwert ab. Wie hat er sie bemerkt? Ich hätte fast sein Gesicht erkannt, doch Claire steht in meinem Sichtfeld. Ihr Speer liegt ein paar Meter von ihr entfernt auf einem schrägen Felsen. Nun ist sie unbewaffnet. Sie hält die Hände etwas erhoben und geht einige langsame Schritte rückwärts. Ich glaube der Junge läuft näher auf sie zu. Ich schleiche mich vorsichtig zu dem Speer hinüber und kralle ihn mir. Mein Plan ist es, sich nun von hinten an den Jungen anzuschleichen und ihn durch den Rücken zu erstechen. Kann ja nicht so schwer sein, denke ich.
Claire lehnt mittlerweile fast an der Steinwand und kann nicht weiter zurückweichen. Ich stehe hinter dem Jungen und könnte ihn jeden Augenblick erstechen. Claire hat auch bemerkt, was mein Plan beinhaltet.
,,Na, Odair.", sagt der Junge plötzlich ,,Denkst wohl, ich hätte dich nicht bemerkt, hm?" Ich erkenne diese Stimme. Das ist zweifellos der Junge aus Distrikt 2, der mir beim Training gedroht hat. ,,Legt den Speer nieder, mach schon.", meint er. ,,Ganz bestimmt nicht.", antworte ich. ,,Sonst kannst du ihn vergessen.", erwidert er. Ihn? Wen meint er damit. Man sieht doch deutlich, dass Claire weiblich ist. Der Junge aus Distrikt 2 dreht sich nun zu mir um. ,,Na wer wohl?! Denk nach! Die neue große Romanze in den Hungerspielen. Du und Collins. Das sind die Hungerspiele! Und keine Flitterwochen!", brüllt er. Ist er übergeschnappt? In so kurzer Zeit? Oder redet er nur das was alle denken? Claire gibt mir hinter seinem Rücken Handzeichen dafür, dass ich ihn endlich erledigen soll. Wahrscheinlich bevor er es mir antut. ,,Mach was, Odair! Irgendwas! Warum checkst du's nicht! Du musst kämpfen, töten!", befiehlt er. Was soll das? Will er, dass ich ihn umbringe? Dann entdecke ich plötzlich ein Abdruck auf seinem linken Oberarm. Es ist nur eine Art Stich von dem mehrere Blutergüsse ausgehen. Was ist das? ,,ERSTICH MICH! MACH SCHON!", schreit er. Immer und immer wieder. Ich weiss gar nicht wie ich die Situation handeln soll. Leidet er etwa unter irgendwas? Dann dreht er sich plötzlich wieder zu Claire um. ,,Brauchst du erst einen Grund um mich zu töten? Soll ich sie umlegen, um dich wütend zu machen?", fragt er. Dann erhebt er sein Schwert und drück Claire mit der anderen Hand an die Felswand. Ich kann nicht anders. Ich ramme ihm meinen Speer in den Bauch und ziehe ich auch gleich wieder hinaus. In dem Moment fällt mir auch sein Name wieder ein. Lion. Er fällt zu Boden und kracht mit einem dumpfen Geräusch auf den Felsen. Er hält sich die Hand auf den Punkt, wo mein Speer in durchbohrt hat. ,,Odair, komm her.", haucht er. Ich zögere kurz, doch kniee mich dann neben ihn. ,,Ja?", frage ich zögerlich.
,,Danke.", antwortet er.
,,Wofür?"
Dann ertönt die Kanone. Er ist tot.
,,Komm, wir müssen weiter.", meint Claire und nimmt ihm sein Schwert ab. Ich stehe auf und blicke ihm noch kurz nach. Ich habe gerade meinen ersten Mord begangen. Seine Worte gehen mir immer noch durch den Kopf: ,,ERSTICH MICH! MACH SCHON!" Was war mit ihm los? Claire hat wohl mitbekommen, dass ich gerade etwas neben der Spur bin.  ,,Hör mal Jane. Er wird nicht der Letzte in der Arena gewesen sein, den du umbringen musst. Konzentrier dich jetzt wieder.", erklärt sie. Die hat leicht reden. Sie wurde nicht von Schnattertölpeln attackiert. Sie musste noch niemanden hier töten.
Mittlerweile haben wir die Felsen hinter uns gelassen und ein Laubwald erstreckt sich vor uns. Da die anderen Tribute sich nicht im Nadelwald aufgehalten haben, müssen sie hier sein. Eine Chance Levi zu finden.
Plötzlich wird es dunkler, die Sonne verschwindet hinter dem Berg. ,,Es kann unmöglich schon so spät sein.", meint Claire. ,,Der Spielemacher achtet nicht auf die Zeiten mit der Sonne. Er lässt sie untergehen wann er das möchte.", haucht es plötzlich von hinten. Ich fahre erschrocken herum und halte meinen Speer auf die fremde Person. Claire jedoch scheint ihn zu kennen. ,,Theodor!", ruft sie und umarmt ihn. Ich schaue die beiden verdutzt an. ,,Keine Sorge, er ist mein Bruder.", sagt Claire. Ich hatte eigentlich keine Lust auf einen weiteren Verbündeten. Ich wollte anfangs ja nicht einmal irgendeinen Verbündeten. ,,Jane, stimmt's?", sagt er und reicht mir freundlich die Hand. Was denkt er wo wir sind? Auf einer Party? Ich nehme seine Hand also nicht an. ,,Warum so unhöflich, Kleine?", meint Theodor. Kleine? Das erinnert mich an Lucious. Ich hab ihm erzählt, dass ich keine Verbündeten möchte. Vielleicht sind die beiden nur so nett zu mir, weil Lucious sie darum gebeten hat? Nein, das macht keinen Sinn. Theodor ist ziemlich gut gebaut, hat viele Sommersprossen und ist sogar noch ein Stück größer als Claire. Kein Wunder, dass er mich als klein bezeichnet. In seiner rechten Hand hält er eine Axt. Damit müsste er ja vertraut sein, da er ebenfalls aus Distrikt 7 stammen muss. Der Distrikt ist zuständig für die Holzlieferung. ,,Wenn ihr wollt, können wir diese Nacht in meinem Versteck verbringen.", schlägt Theodor vor und deutet hinter sich. Eine Art Höhle in einem der Felsen, aus der Richtung aus der wir gerade kamen. ,,Kommst du, Jane?", fragt Claire. Ich zögere kurz, doch entscheide mich dann doch dafür, mit ihnen dort zu übernachten. ,,Wenn ihr wollt halte ich die erste Wache.", sagt Theodor und wirft sich die Axt über die Schulter. ,,Ganz sicher nicht. Ich übernehme das.", wende ich sofort ein. Als ob ich ihm mein Leben in die Hand lege, obwohl ich ihn erst seit 10 Minuten kenne. ,,Deine Entscheidung.", meint er bloß und legt sich in der Höhle nieder. Ich lehne mich mit meinem Speer in der Hand an den Eingang der Höhle und schiebe Wache. ,,Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt zu fliehen. Allein weiter nach Levi zu suchen und.." Meine Gedanken werden durch eine Hymne unterbrochen. Am Himmel wird das Symbol des Kapitols gezeigt. Ich weiss, dass nun die bereits töten Tribute ausgestrahlt werden. Es beginnt mit dem Jungen aus Distrikt 2, den ich getötet habe. Dann das Mädchen aus 3. Gleich danach geht es weiter mit Distrikt 5. Bedeutet, dass Levi noch am Leben ist. Eine Erleichterung, sonst würde ich ja umsonst nach ihm suchen.
Gezeigt werden der Jungen aus 5, beiden aus 6 und das Mädchen aus 8. Zum Schluss noch der Junge aus 10 und beide aus 11. Somit sind allein heute neun Tribute, eigentlich Kinder, gestorben.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWhere stories live. Discover now