Kapitel 18

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,,Komm Jane, gehen wir nach Hause.", sagt er und reicht mir seine Hand. Ich zögere, weil ich nicht ganz verstehe was genau er nun von mir erwartet. Nach Hause? Wir sind die letzten beiden und es kann nur einer siegen und nach Distrikt 4 zurückkehren. Ruckartig greift er einfach nach meiner Hand und zieht mich auf die Beine. Im ersten Moment vergesse ich meine blutende Wunde, doch dann kommt der Schmerz verstärkt zurück. Ich drücke meine Hand fest darauf, doch den Schmerz lindert es nicht. Ohne etwas zu sagen nimmt er mich aufeinmal auf seine Arme und schwimmt mit mir hinüber auf die andere Seite des Wassers. Auf die Seite mit dem Füllhorn. Es muss enorm an seinen Kräften ziehen, mich und ihn an der Wasseroberfläche zu halten. Auf der anderen Seite angekommen, läuft er ohne Worte in Richtung Füllhorn und setzt mich dann an eine der Kisten, die um das Füllhorn herum stehen. ,,Was hast du vor?", frage ich leise. Er sieht mich kurz an und läuft dann ins Füllhorn. Ich hätte mir zwar denken können, dass ich keine Antwort bekomme, doch einen Versuch war es wert. Ich versuche ihm nachzuschauen, doch einige andere Kisten stehen in meinem Blickfeld. Plötzlich erklingt die Kanone. Ich bekomme aufeinmal schreckliche Panik und fange an schnell zu atmen. Ist noch jemand übrig gewesen, den ich übersehen habe? Das ist nicht möglich! Ich habe doch jeden Abend alle Gefallen mehrmals aufgezählt. Dann fiel mir ein anderen Gedanke ein. Bin ich etwa tot? Ich sehe mich um, blicke an mir hinab. Wenn sich so tot sein anfühlt, dann weiss ich auch nicht weiter. Nein, ich bin am Leben. Ist Levi etwa... Sofort rappele ich mich mühsam auf. Ich stütze mich an den herumstehenden Boxen ab und bahne mir den Weg ins Füllhorn.
Am liebsten hätte ich nicht gesehen, was mich dort erwartet hat. Dieses mal kann ich meine Gefühle nicht unterdrücken. Ich falle zu Boden, vergesse, dass ich selbst fast verblute. In seiner offenen Hand liegt ein blutverschmiertes Messer. Ich brauche einige Sekunden, um zu realisieren, dass er sich selbst die Halsschlagader aufgeschnitten hat. Tatsächlich schreie ich eins zwei mal. Die Tränen brauche ich nun auch nicht mehr zu unterdrücken.
Die Stimme von dem Spielmacher geht in meinem Kopf völlig unter. Seine Worte kommen bloß stückweise  bei mir an. Dann kommen sie, zerren mich an den Armen von ihm weg und schaffen mich auf die Platte um in das Hovercraft zu kommen, welches bedrohlich über der Arena schwebt. Das ganze geht so schnell, dass ich gar keine Zeit habe zu realisieren, dass ich die Hungerspiele überlebt und gewonnen habe. Doch was bringt mir das schon, wenn ich unter mir sehe, wie sie Levi auf einer Trage hinaus schaffen und er nicht mit mir nach Hause fahren wird. Mehrere Ärzte aus dem Kapitol tummeln sich um mich, als die Plattform oben im Hovercraft ankommt. Ich schalte mein Gehör einfach ab und starre an die grauen, kühlen Wände in dem Hovercraft. Ich weiss nicht, ob wir schon losgeflogen sind. Als sie mich mitnahmen, habe ich die komplette Außenwelt stummgeschalten. Doch ruckartig kommt das Hovercraft zum Stoppen und die graue Wand, auf die ich die ganze Zeit starrte, öffnet sich. Die Leute, die mich schon den ganzen Weg über bedrängt haben, holen eine rollende Liege. Ich sehe bloß auf diese Trage, doch bewege mich kein Stück. Es war nicht so als wollte ich mich nicht bewegen, ich konnte es schlichtweg nicht. Ein Friedenswächter nimmt mich letzendlich hoch und setzt mich auf die Liege. Die Ärzte schieben mich eilig in irgendeinen Untersuchungsraum. Einer von ihnen redet schon die ganze Zeit mit mir. Ich sehe, dass sich seine Lippen bewegen, doch seine Worte dringen nicht bei mir ein. Es ist so, als hätte jemand sie alle mit einer Fernbedienung stummgeschalten.
Die Trage bleib stehen und um mich herum stehen mindestens zehn Ärzte. Alle sehen mich besorgt an. Zuerst frage ich mich warum, doch dann fällt mir meine offene Wunde wieder ein. Ich hatte sie total vergessen, als ich Levi dort liegen sah.
Bevor ich meinen Gedanken zu Ende sprechen kann, taucht hinter mir plötzliche eine mit einem Handschuh bekleidete Hand auf und legt mir irgendeine Maske ins Gesicht. Dann wird alles schwarz.

Grelles Licht blendet mich, als ich langsam die Augen öffne. Meine Sicht ist leicht benebelt, doch dieser Nebel lichtet sich allmählich. Ich setze mich auf und blicke mich im Raum um. Weiße Wände, weißer Fußboden, weiße Türen. Es erinnert mich mehr an eine Irrenanstallt aus dem Fernseher, als an eine Arztpraxis aus dem Kapitol. Eine Strähne meines Haares hängt mir komplett im Gesicht, doch als ich sie ergreifen wollte, bemerke ich erst, dass meine beiden Hände angekettet sind.
Ich frage mich ehrlich was das soll. ,,Hallo!?", rufe ich. Nach wenigen Sekunden öffnet sich eine der weißen Türen und eine Frau im Laborkittel kommt herein. Sie wird von zwei bewaffneten Friedenswächtern begleitet. ,,Na, wie geht es dir?", fragt sie gut gelaunt. ,,Wie's mir geht?", wiederhole ich. ,,Wo bin ich?", will ich zunächst wissen. ,,Im Kapitol. Wo denn sonst?", antwortet sie und bereitet neben mir irgendetwas mit den Medikamenten vor. ,,Was soll das ganze hier? Was machen Sie da?", erwidere ich hastig. ,,Hör auf Fragen zu stellen!", befiehlt plötzlich einer der Friedenswächter. ,,Ist schon gut.", entgegnet die Frau daraufhin. ,,Warum bin ich angekettet?", frage ich sie. ,,Zu deiner eigenen Sicherheit.", erklärt sie. ,,Sie können mich ruhig loslassen. Ich tue niemanden was." Darauf hin fängt sie an zu lachen. ,,Du wartst wohl in den letzten Tagen nicht anwesend, he?", sagt sie und kichert vor sich hin. ,,Nein, wie auch?", antworte ich. Ich habe langsam das Gefühl, dass nicht ich hier angekettet gehöre. Plötzlich steht die immer noch kichernde Frau auf. In der rechten Hand hält sie eine Spritze. ,,Was haben Sie vor?", will ich wissen. ,,Nichts weiter, aber du willst doch zu deiner Familie, nicht?", meint sie und grinst mich an. Ich habe keine Ahnung, ob sie das ernst meint oder das nur eine Art Anspielung sein sollte. Die Arme eines Friedenswächter schlingen sich auf einmal um mich und drücken mir fast die Luft ab. Das letzte was ich merke, ist wie die Frau nach meinem Handgelenk greift und die Nadel der Spritze in meine Haut sticht. Dann wird wieder alles schwarz.

Diesmal ist es kein helles Licht, welches mich erwartet, als ich die Augen wieder öffne. Ganz im Gegenteil es ist einzig und allein ein Schein draußen vor einer Tür, der etwas Licht in das Zimmer lässt. Was haben diese Leute mit mir vor?
Ich sitze auf einem Stuhl. Meine Arme sind hinter meinem Rücken gefesselt. Mit einem lauten Knall stößt jemand die Tür auf, von der das Licht kam. ,,Na, 04 (Four).", sagt die Person, die eben herein kam. ,,04?", frage ich bloß. Was ist das jetzt wieder für ein komisches Spiel? ,,Ich bin hier, um dir zu helfen.", sagt der Mann. ,,Mir zu helfen? Wobei?", will ich wissen. ,,Mit der Sache umzugehen. Deine Freunde und Verbündete sterben zu sehen sind nicht gerade schöne Erinnerungen, richtig? Wir lassen dich das alles vergessen, nur musst du dafür auch einen Preis zahlen.", erklärt er, schnappt sich einen anderen Stuhl, der mir gar nicht aufgefallen war, und setzt sich mir gegenüber. Da ich ihn ziemlich skeptisch ansehe, fährt er fort: ,,Ich erkläre es dir mal. Also, du bist unser 4. Proband, der die Chance hat das alles zu vergessen was du da drin sehen musstest. Nur sehr wenige haben die Chance auf diesen Luxus. Die meisten Überlebende werden zu jämmerlichen Wracks. Doch dich hat sich der President herausgepickt, um die Behandlung zu bekommen. Und weisst du warum? Du bist attraktiv. Das Publikum liegt dir zu Füßen! Deshalb darfst du nicht ein solches Wrack werden, wie der Großteil der Sieger. Die Sache ist noch ziemlich neu und keiner außer uns Wissenschaftlern und der President wissen davon. Es wurde erst vor 7  Jahren eingeführt. Also kannst du dich freuen.", erläutert er. ,,Sie haben von einem Preis geredet, den ich zahlen muss. Ist damit das Geld für den Gewinner gemeint?", frage ich ihn. ,,Nein, keineswegs. Dein Geld kannst du brav mitnehmen. Damit ist ein anderer Preis gemeint. Es ist keine sonderlich bedeutende Aufgabe für dich, doch der President hat sich das ganze ausgedacht. Jedoch meinte der Presindent auch, dass jeder Proband eine Nacht darüber nachdenken darf, ob er das Angebot eingeht. Erst nachdem du zugestimmt hast, wird dir der Preis verraten, den du zahlen musst.", erörtert er und sieht mich dann erwartungsvoll an. Ich zögere, doch ich brauche sicher keine Nacht um darüber nachzudenken. ,,Ich lehne ab.", sage ich prompt. ,,Warte warte, du darfst 8 Stunden überlegen.", meint er hastig. ,,Nein, das brauche ich nicht. Wer weiss, welchen Preis ich dann hätte zahlen müssen. Das ist mir zu riskant.", antworte ich. ,,Was hast du noch zu verlieren? Außer den Flashbacks, den Albträumen, den Erinnerungen.", wirft er ein. ,,Ich sagte 'nein'. Hab ich mich undeutlich ausgedrückt?", protestiere ich. ,,Wie du willst, 04.", meint er plötzlich und steht auf. Er geht in eine Ecke des Raumes und drückt irgendeinen Schalter an der Wand. Eine der dunklen Wände entpuppt sich als Glas hinter dem das Licht angeht. Und dann sehe ich sie da hängen. Eine neben der anderen. Alle 23 Tribute aus meinen Hungerspielen. Ich erkenne ganz am Anfang Lion, etwas weiter Claire. Zwei weiter hängt Theodor. Danach Nick und Ron. Daneben Lucilia und Willow. Sie haben Willow wirklich den Kopf wieder angenäht, sodass man noch die Naht sieht. Zum Schluss ist da noch Levi, der sich für mich das Leben genommen hat. Ich darf jetzt nicht zeigen, dass sie alle mir etwas bedeuten, denn das ist das was die alle hier wollen. Deshalb schaue ich einfach zu Boden. Ich bemerke wie der Mann auf mich zu läuft und plötzlich nach meinem Kinn greift, sodass ich ihn ansehen muss. ,,Du siehst dir das gefälligst an!", brüllt er und zeigt auf die Gefallenen. ,,Für einige ihrer Tode bist du verantwortlich! Willst du immer noch, dass sie alle dich in der Nacht heimsuchen?", sagt er zu mir. ,,Lieber so, als das ich sie vergesse!", entgegne ich. ,,Wie du meinst.", flüstert er. ,,Tut mir echt leid, 04. Wir sehen uns bestimmt noch mal.", meint er und sticht mir eine Nadel in den Oberarm, die er die ganze Zeit über in seinem Kittel versteckt trug. ,,Mistkerl.", zische ich noch, bevor es wieder schwarz wird.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWhere stories live. Discover now