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Es gibt ein Foto von uns, als wir noch etwas jünger waren und ebenfalls bei einander übernachtet haben. Wir lagen zu dritt in ihrem Bett, kuschelten uns aneinander, ich hatte die gesamte Mitte eingenommen und wurde oft dafür in der Nacht angeschnauzt, endlich etwas Platz zu machen. Aber mir gefiel es so gut, neben meinen Schwestern zu liegen und von ihnen beschützt zu werden.

Jetzt fühle ich mich nur noch unwohl.

Dieses Foto, diese Erinnerung, dringt langsam in mein Bewusstsein, während ich ein paar Mal blinzle und mich die Kuhle im Bett daran erinnert, dass Lia neben mir geschlafen hat. Ebenso wird mir bewusst, dass ich gestern keine Schlaftablette genommen habe und das wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass sich dieser Gedanke einschleichen konnte.

Der altbekannte Druck schleicht sich wieder in meine Brust. Ich springe auf und kippe um, da ich nicht bedacht habe, dass ich das Bein noch nicht angeschnallt habe.

„Hey, ist alles okay?" Lia steht plötzlich in der Tür, die offen ist. Anscheinend ist sie schon länger wach als ich, denn sie ist bereits vollständig angezogen. Ich blicke sie nur von unten herab an und nicke. Wortlos reicht sie mir das Bein, welches sie aus dem Bad geholt hat.

„Was willst du frühstücken?", fragt sie, währenddessen ich mich wieder mobilisiere. Ich bin so überfordert über diese fast normale Situation und zugegebenermaßen auch noch schlaftrunken, dass ich lediglich die Schultern zucke und „Müsli" antworte, obwohl ich doch eigentlich gar nichts am Morgen esse. Die Brünette nickt, lächelt mich schüchtern an und schließt wieder die Tür hinter sich. Ich würde mir später Gedanken über Lia und den gestrigen Abend machen, der noch irgendwo in meinem Hinterkopf schwirrt. Zuerst muss ich sie aus dem Kopf bekommen, die sich wie auch immer einen Zugang zu meinen Gedanken verschafft hat. Glücklicherweise schaffe ich es noch, sie in keine Person zu verwandeln. Sie ist eine Ahnung, eine Erinnerung, die ich noch zurück drängen kann. Damit das aber auch so bleibt, muss ich erst wieder etwas Glücksgras vernichten.

Ich suche in meiner Jackentasche, etwas hektischer in meinem Nachttischschrank und vollkommen in Panik schließlich in meinem Geheimversteck hinter meiner Kommode, doch ich muss feststellen, dass ich meinen Vorrat aufgeraucht habe. Aber das ist nicht möglich. Ich habe noch nie so viel geraucht, dass ich nicht übers Wochenende gekommen bin. Langsam lasse ich mich auf den Boden sinken und stütze den Kopf auf meine kühlen Hände. Ich muss zugeben, ich habe gestern Abend wirklich viel geraucht. Und auch am Freitag habe ich nicht nur einen Joint vernichtet.

Die aufkommende Panik versuche ich irgendwie zu unterdrücken. Ich muss einfach ruhig bleiben und- Warte. Habe ich nicht die Nummer von Weed? Ich habe ihn noch nie außerhalb der Schule gesehen, aber ich schätze, verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen.

Eigentlich will ich mich sofort auf den Weg zu Weed machen, nachdem ich ihn angerufen habe und er meinte, dass ich vorbeikommen kann. In meiner Not habe ich jedoch nicht bedacht, dass es wahrscheinlich eine Krisensitzung in meiner Familie gäbe aufgrund der Trennung meiner Eltern.

Bereits das zweite Mal in Folge sitze ich am Frühstückstisch und esse etwas, obwohl ich nicht möchte. Ich bin nervös.

„Emi, hörst du jetzt endlich mal damit auf. Was ist denn los?", zischt Lia neben mir und erst jetzt merke ich, dass ich die ganze Zeit mit dem Fuß auf den Boden getippt habe. Ich höre auf und murre eine Entschuldigung.

„Eure Mutter kommt in einer Stunde vorbei, um noch mit euch zu reden und sich zu verabschieden, weil sie doch wieder weg fliegt", sagt schließlich mein Vater. Ich verschlucke mich an meinem pampigen Müsli und huste.

„Ich möchte aber nicht mir ihr reden!", rufe ich aufgebracht. Ich konnte noch nie gut mit meiner Mutter reden und ich habe gar kein Problem damit, wenn sie jetzt vollkommen aus meinem Leben verschwindet. Es wird sich auch so gut wie gar nichts ändern. Auf die paar Tage, die sie im Monat Zuhause ist, kann ich getrost verzichten.

Wie die tote Morgenröte mich verschluckteWhere stories live. Discover now