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Alfies Behauptung, der morgige Tag würde anstrengend werden, ist die Untertreibung des Jahrtausends. Es fängt bereits acht Uhr am Morgen an, als meine Mutter in das Zimmer stürmt und meint, ich solle aufstehen. Mein Vater hat mich für heute und morgen in der Schule abgemeldet und ich bin davon ausgegangen, dass ich ausschlafen kann. Da habe ich die Rechnung jedoch nicht mit meiner Mutter gemacht.

„Ma biche, wenn du nischt gleisch aufste'st, giebt es kein Essen me'r für disch", sagt sie, stolziert durch das Zimmer und reißt das Fenster auf, welches ich in der Nacht zu gemacht habe, weil es mir zu kalt geworden ist. Genervt drehe ich mich auf die andere Seite, in der Hoffnung, dass sie mich in Ruhe lässt. Ein bestialischer Gestank schlägt mir jedoch entgegen und ich öffne die Augen. Eine sabbernde Hundeschnauze liegt offen vor mir und pustet mir ekligen Mundgeruch ins Gesicht. „Isch kann nischt fassen, dass du mit diesem Viesch in einem Bett geschlafen 'ast." Auch ohne sie anzusehen, weiß ich, dass meine Mutter wahrscheinlich gerade die Nase rümpft. Ich tätschle dem Hund einmal den Kopf. Wenn meine Mutter ihn nicht leiden kann, ist er ab sofort mein neuer bester Freund.

Nach ein paar weiteren Minuten im Bett bin ich endlich bereit, mich mit der Familie auseinanderzusetzen. Es sitzen schon alle im Esszimmer, welches von dem Wohnzimmer mit einem modernen Kamin getrennt ist. Mein Vater und Mutter sitzen so weit voneinander entfernt, wie es nur möglich ist und das ist echt merkwürdig. Ich meine, klar, sie haben sich getrennt und ich habe nun wirklich kein Problem damit, aber es ist trotzdem komisch, sie so distanziert zu sehen. 

Alfie sitzt am einen Ende des tafelähnlichen Tisches neben meinem Vater und unterhält sich mit ihm, während Lia am anderen Ende bei meiner Mutter sitzt und anscheinend gezwungen wird, ein Gespräch mit ihr aufzubauen. Einen Moment stehe ich unsicher da, bis ich mich neben Lia setze.

„Zum Glück bist du da", flüstert mir meine Schwester erleichtert zu und zwinkert. Ich schenke ihr ein schwaches Lächeln und rutsche unbehaglich auf dem kalten Holzstuhl hin und her. Das Bein schlägt gegen das Stuhlbein. Tatsächlich fällt mir erst jetzt auf, dass ich vergessen habe, mich umzuziehen und noch in meinem kurzen Schlafanzug da sitze. Es scheint sich jedoch niemand daran zu stören und wenn doch, zeigen sie es nicht.

„Was willst du essen, Emi?", fragt mich Alfie. Mit flauem Magen verschaffe ich mir einen kurzen Überblick über die Essensauswahl, selbst wenn ich schon weiß, dass ich nichts essen werde.

„Nichts", antworte ich schließlich auch wahrheitsgemäß.

„Du musst essen, Noemi!", ruft meine Mutter aus. Ich starre sie an und schüttle den Kopf.

„Ich habe keinen Hunger."

„Du sie'st schon ganz abgemagert aus", erwidert gerade die feine Französin, die kein Gramm zu viel an ihrem Körper hat.

„Lass sie doch, wenn sie nichts essen will", mischt sich nun auch noch mein Vater ein. Lia, Alfie und ich wechseln einen Blick.

„Also ich finde..", fängt Alfie an, doch er wird unterbrochen.

„Das ischt mal wieder so typisch! Du lässt ihr zu viel' Frei'eiten." Meine Mutter.

„Sie ist bald 18 Jahre alt, da werde ich sie doch nicht so bemuttern." Mein Vater.

„Guck sie dir dorr mal an! Sie sie't aus wie eine Leische." Jetzt gucken mich alle an und ich fühle mich noch unwohler als eh schon.

„Hey!", werfe ich ein, werde jedoch einfach übergangen.

„Und sie raurt aur norr. Wusstest du das? Sischerlich, denn dir ist ja eh alles egal." Meine Mutter. Apropos rauchen, das ist gerade eine wirklich gute Idee. Die beiden reden sich immer mehr in Fahrt.

Wie die tote Morgenröte mich verschluckteWhere stories live. Discover now