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Später an diesem Abend sind wir noch irgendwie auf das Thema Jungs gekommen. Inzwischen liegen wir nicht mehr auf der Rutsche, sondern sind auf dem gleichen Spielplatz hoch in einen Turm geklettert, damit wir uns etwas windgeschützt unterhalten können. Die Spinnen, die über uns ihre Netze spinnen, ignorieren wir geflissentlich. Yuna muss sich ja auch keine Gedanken darüber machen, ob sich eine in ihren Haaren verfängt.

„Wer möchte denn bitte sehr im Bett mit einem Typen liegen und dann stöhnen „Oh ja, Weed, gib es mir"?", bemerkt mein Gegenüber und ich lache.

„Sein richtiger Name ist Richard Reed", stelle ich klar und sie zuckt mit den Schultern.

„Richard? Das macht es nicht besser."

Ein Vogel flattert aus dem Baum und ich zucke zusammen. „Und ansonsten gibt es keine Schnuckelchen, die irgendwie erwähnenswert wären?", fragt sie und klopft auf den Holzboden, auf dem wir sitzen. Etwas Sand rieselt runter.

„Wieso? Brauchst du etwa so dringend einen Typen?" Sie fasst sich an die Brust und seufzt theatralisch.

„Immer. Ich brauche dringend meinen Prinzen, der mich rettet." Yuna beugt sich aus der Öffnung des Turms heraus, welche als Fenster dient, und ruft laut: „Mein holder Prinz, wo bist du nur?" 

Wir beide kugeln uns vor Lachen, bis aus der Ferne ein „Hier!" erklingt und wir uns kichernd den Mund zuhalten, damit derjenige nicht unser Versteck findet.

„Nein, aber ernsthaft", flüstert sie und streicht sich unterbewusst über ihren kahlen Schädel. „Ich brauche keinen Typen, aber es macht manchmal Spaß, weißt du? Früher ist es einfach leichter gewesen, neue Leute kennenzulernen."

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Heißt das etwa, dass du den Unfall doch bereust?", frage ich provozierend.

Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln. „Nein, schließlich weiß ich inzwischen, dass jemand ernsthaftes Interesse an mir hat, wenn er sich jetzt mit mir trifft."

Darauf antworte ich erst mal nichts, bevor ich auf die Idee komme, ihr doch noch von Jemanden zu erzählen. Mein Herz pocht schnell, weil es mir nicht gefällt, mich anderen Menschen anzuvertrauen, aber irgendwie herrscht hier so eine intime Stimmung. Es ist Spätabends und der perfekte Moment, um sein Herz auszuschütten, selbst wenn es nicht so viel zum Ausschütten gibt. Aber irgendwie habe ich es vermisst, mich mit meinen Schwestern zusammenzusetzen und über Jungs zu reden, die ich eventuell toll finden könnte. 

Es ist einfach, mit Yuna zu reden. Sie verurteilt nicht. Und seien wir mal ehrlich, sie kann mit diesen Informationen auch nicht wirklich viel anfangen, schließlich kennt sie hier niemanden. 

Ich räuspere mich. „Naja, weißt du, es gibt schon ein'Schnuckelchen'", fange ich zaghaft an und Yuna klatscht begeistert in die Hände, doch mich verlässt der Mut.

„Und weiter?", fragt sie und legt ihren Kopf schief. Jetzt habe ich ihre volle Aufmerksamkeit.

„Er geht aufs gleiche College wie meine Schwester-"

„Du hast eine Schwester?", unterbricht sie mich.

„Ja. Jedenfalls, er hat mich aufgegriffen, nachdem ich mir bei Weed die Birne zugeknallt habe und anscheinend in irgendeinem Wahn war", beende ich.

Trotz der Dunkelheit sehe ich, wie sie unbeeindruckt eine Augenbraue hochzieht. „Wie romantisch. Romeo und Julia wer?" Sie mustert mich. „In was für einem Wahn?"

Unbehaglich rutsche ich auf meinem Platz hin und her und eine Holzdiele knarzt. „Ich dachte, dass er Kurt Cobain ist und bin auf die Straße gerannt, weil ich mich selbst für tot hielt", nuschle ich und sie kneift die Augen zusammen, um wahrscheinlich mein Genuschel zu entziffern.

„Warum dachtest du, dass er Kurt Cobain ist?"

Ich zucke mit den Achseln. „Weil er Kurt heißt."

Danach herrscht Stille, doch nach kurzer Zeit bricht sie in schallendes Gelächter aus und auch ich lache verhalten. „Du bist ja noch viel gestörter, als ich dachte", bringt sie heraus und kriegt dafür einen Schlag auf den Oberarm von mir.

„Und das wars?", hakt sie nach, nachdem sie sich wieder beruhigt hat.

Ich nehme ein kleines Steinchen zwischen die Finger und begutachte es. „Nicht ganz. Als ich bei meiner Schwester am College war und ich gekifft habe-"

„Ernsthaft jetzt, wie viel kiffst du denn?"

Ich überhöre das geflissentlich. „Da ist der mit so einem Golfcart angekommen. Irgend so ein Security Scheiß für betrunkene Weiber. Und er hat mich mitgenommen und sicher wieder am Wohnheim abgesetzt."

Es ist komisch, darüber zu reden. Schließlich ist wirklich nichts Besonderes passiert, Kurt ist lediglich nett zu mir gewesen und hat zum Teil auch seinen Job gemacht. Trotzdem beschäftigt es mich. Und es ist auch etwas angenehm, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, als über andere, unschönere Themen. 

Sie wartet, doch als ich nichts sage, seufzt sie. „Und weiter?"

„Was weiter?"

„Na, hast du seine Nummer?"

Ich schüttle den Kopf.

Wir beide blicken uns in die Augen und ich habe keine Ahnung, was in ihrem kahl rasierten Kopf vor sich geht. „Warum nicht?"

Unschlüssig zucke ich mit den Schultern. „Er ist mit meiner Schwester befreundet, das wäre voll komisch. Außerdem ist er anscheinend gegen Drogen und da bin ich nicht gerade die Richtige." 

Der Wind, der durch das kleine Häuschen pfeift, bläst mir eine Locke ins Gesicht, die sich irgendwie aus dem Dutt gelöst hat, und entschieden streiche ich sie mir hinters Ohr.

„Drogen sind auch voll 2007. Aber weißt du was?", fragt sie mich und ich schüttle den Kopf. „Wenn du mit diesem Kurt Cobain Kontakt haben möchtest, dann mach es einfach. Ist doch egal, mit wem er befreundet ist und ob es total in die Hose geht. Gerade wir beide wissen ganz genau, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Ergreife jede Chance, denn das Schicksal ist ein Miststück und du möchtest doch nicht irgendwas bereuen, was du nicht getan hast, oder?" Zufrieden mit ihrer Ansprache lehnt sie sich zurück und schließt die Augen mit einem seligen Lächeln. 

„Dafür, dass du angeblich nicht kiffst, laberst du aber ganz schön viel poetische Scheiße", sage ich.

Doch ich denke trotzdem über ihre Worte nach und an die Kneipe, in der meine Schwestern und ich vor fast zwei Jahren gewesen sind. Hätte ich mich zusammen gerissen und nicht gewollt, jede Erfahrung in einem so jungen Alter mitzunehmen, dann wäre heute alles anders. Ich würde Yuna nicht kennen und würde jetzt auch nicht auf einem Spielplatz rumhängen, sondern Zeit mit meinen zwei Schwestern verbringen – und ich wäre nicht verkrüppelt.

Diese Gedanken spreche ich aber nicht aus und so sitzen wir einige Minuten schweigend da. Ich denke an Kurt und daran, wie er mir geholfen hat. Daran, wie angenehm es gewesen ist, dass mir irgendjemand helfen wollte, der nicht mit mir verwandt ist. Der nicht schreiend weg gerannt ist, als er meinen zugegeben großen Makel gesehen hat. Und verdammt nochmal, er ist ein hübscher Junge und hat mir etwas Aufmerksamkeit geschenkt – Selbst wenn das eher unfreiwillig geschehen ist.

Mit flinken Fingern suche ich meinen angerauchten Joint und ein Feuerzeug aus meiner Jackentasche. Das Feuerzeug flammt vor meinem Gesicht auf und ich bemerke Yunas Blick, der auf dem Joint liegt.

„Du musst unglaublich stinken", bemerkt sie und verwirrt über diese Aussage ziehe ich eine Augenbraue hoch, bevor ich den Rauch aus meiner Lunge entweichen lasse.

„Ich rieche wie 'ne Graslandschaft", behaupte ich. Sie lacht über diesen schlechten Witz.  

Wie die tote Morgenröte mich verschluckteWhere stories live. Discover now