Kapitel 1

109 5 1
                                    

„Du bist ein Geschenk für meinen König", sagte der Mann. Er hatte dem Mädchen die Hände zusammengebunden und mit einem Seil an seinem Pferd befestigt. Sie lief schon seit Tagen neben dem Pferd, wie eine Sklavin. Sie war keine Sklavin, jedenfalls war sie es bisher noch nie gewesen und dachte nicht daran jemandes Eigentum zu werden. Ihre Füße waren wund und ihre Knie taten ihr weh. Sie Spürte den Staub der Straße in ihrer Lunge und wie die Sonne langsam ihre Haut verbrannte. Sie wusste, dass die Königsstraße lang ist und sie wusste auch, dass sie den Weg in die Hauptstadt nicht überlebt, wenn der Mann nicht bald Rast machte.

„Ich würde dich ja selbst behalten. Du bist ein schönes Mädchen. Aber ich habe mehr davon, wenn ich dich nach Shush bringe." Er sah auf sie herab, aber sie schien ihm nicht zuzuhören. Sie musste taub sein, oder dumm. Wo auch immer sie her kam, dort schien ihr niemand das sprechen beigebracht zu haben. Sie hatte, seit er sie von der Straße aufgelesen hatte, kein Wort mit ihm gesprochen. Das war mehr als zwanzig Nächte her. „Ich brauche Hände die arbeiten können. Sieh dich an, du würdest schon am ersten Tag sterben."

„Brauchst du Wasser?", fragte er und bot ihr seinen Wasserschlauch an. Gierig griff sie danach und trank so viel sie konnte bevor er es ihr wieder wegnahm. „Nur so viel, dass du mir nicht stirbst.", sagte er dann. Das sagte er jedes Mal. Er ritt weiter, immer weiter, obwohl sie nicht mehr laufen konnte. Das Mädchen spürte wie ihre Kraft sie verließ und versuchte sich noch so gut es ging auf den Beinen zu halten. Es ging nicht mehr, sie war am Ende.

Sie hoffte, dass der Tod nur halb so schmerzhaft wäre, wie die Reise, die sie schon hinter sich hatte. Viele Leute hatten ihr versucht zu erzählen was nach dem Tod kommt. Es waren immer andere Geschichten und keine davon hatte ihr gefallen. Sie war noch nicht bereit zu sterben und sie tat es auch nicht. Als sie ihre Augen öffnete, lag sie sehr weich in einem großen Raum. Die Wände waren kunstvoll verziert und auf dem Boden lagen teure Teppiche. Hat er mich tatsächlich zum König gebracht? Panik stieg in ihr auf. Sie wusste nicht wo sie war, wer sie hierhergebracht hatte und noch viel weniger wusste sie wie es weiter gehen sollte. Als sie an sich heruntersah, bemerkte sie, dass sie andere Kleidung trug als zuvor. Ihre kaputten Lumpen waren durch ein leichtes Kleid ersetzt, welches sich schonend über ihre verbrannte Haut legte. Es bedeckte gerade so die nötigsten Stellen. Sie wurde doch wohl nicht als Hure verkauft? Unbeholfen stand sie auf und musste feststellen, dass ihre Beine schwach und ihre Knie aufgeschürft waren. Ihr Kopf pulsierte und ihr Rachen war trocken. Sie versuchte die Tür zu öffnen, die den Raum verschloss, doch es ging nicht. Sie war gefangen. Wütend hämmerte sie gegen die Tür, doch ihre Arme taten weh.

Sie sah sich weiter in dem Raum um. Irgendwas musste es doch geben was sie hier heraus brachte. Auf einem kleinen Tisch standen ein paar Trauben und Feigen, aber sie hatte weder Hunger, noch halfen sie ihr sich zu befreien. Daneben stand eine Schale mit Öl, falls die Feuer, die den Raum erhellten erlöschen würden. Feuer! Das Mädchen nahm die Schale und kippte das Öl gegen die Tür. Ihr Plan war riskant, nicht nur weil sie nicht sicher war ob es funktionieren würde, sondern auch weil sie nicht wusste was sie hinter der Tür erwartete. Sie schloss ihre Augen atmete tief ein und aus. Mögen die Götter mir helfen.

„Pyr.", sagte sie ruhig, aber entschlossen und als sie die Wärme des Feuers auf ihrer Haut spürte öffnete sie sie Augen um dabei zuzusehen, wie die Flammen an der Tür leckten und diese in kurzer Zeit zerstörten. Mit aller Kraft trat sie gegen das Holz, was die Tür zum Einsturz brachte. Die Flammen verbrannten dabei etwas von ihrer Haut, aber das war für sie in diesem Augenblick nebensächlich. Langsam schritt das Mädchen an das Loch in der Wand heran um hindurch zu treten, da erkannte sie die Umrisse zweier Menschen auf der anderen Seite. „Ich habe deinem Vater doch gesagt, dass sie zu mehr als einer Hure taugt. Eine Priesterin aus Delphi erkenne ich sofort", sagte die Griechin, aber ihr Prinz hörte ihr nicht zu. "Lyra?", Laura sah ihre Freundin besorgt an. Sie hatte Lyra noch nie so gesehen, nicht so niedergeschlagen. "Alles okay? Was steht da? Ist er von deinem Vater?", fragte sie. Wie sollte sie ihr helfen, wenn sie nicht wusste was Lyra so fassungslos machte. "Hallo? Erde an Lyra, antworte mir gefälligst.", versuchte sie es nochmal und fuchtelte vor dem Gesicht ihrer besten Freundin herum. Diese ließ den Brief endlich auf den Tisch sinken und vergrub gleich darauf ihr Gesicht in ihren Händen. "Das kann nicht wahr sein", seufzte sie. "Was ist es denn nun?", hakte Laura nochmals nach. "Es ist eine Vorladung, der Coven will mich sehen.", antwortete Lyra und rieb sich die Schläfen. Sie wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, nur hatte sie doch irgendwie gehofft darauf mehr vorbereitet zu sein.

BloodlineWhere stories live. Discover now