Kapitel 22

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Die kalte Nachtluft vertrieb die Übelkeit und ließ sie wieder klar denken. Was hatte sie sich nur dabei gedacht hierherzukommen? Sie hätte sich doch denken können, dass diese Aktion in einem Desaster endet. Verzweifelt lehnte sie sich gegen die Hauswand und ließ sich zu Boden sinken. Sie versuchte sich einzureden, dass wegen ihr fünf Menschen gestorben waren, allerdings musste sie sich eingestehen, dass Vampire streng genommen keine Menschen waren und sie es vielleicht sogar verdient hätten. Andererseits wusste sie auch nicht wie alt diese Leute gewesen waren, vielleicht waren sie erst seit kurzem Vampire und hatten genau wie sie selbst Wünsche und Träume. Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand keinen Weg sich nicht schuldig zu fühlen.

Jonathan kam ebenfalls nach Draußen und setzte sich auf den kalten Steinboden, neben Lyra. Er wusste nicht, ob sie ihn jetzt sehen wollte. Sie hatte ihm eindeutig klar gemacht, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, er konnte sie dennoch nicht alleine lassen. Schon gar nicht jetzt. Er starrte so wie sie auf die Wand des Gebäudekomplexes auf der anderen Straßenseite und sagte kein Wort. Ihm war bewusst, dass es für einen Menschen durchaus erschreckend sein konnte, zu sehen wie ein Vampir sein Herz verliert, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass Lyra es so schlecht verkraften würde.

„Wie lange willst du hier sitzen bleiben?", fragte Lyra ohne ihn anzusehen. Sie starrte in die Leere und versuchte ihre Gedanken zu sammeln.

„Wenn's sein muss bis zum Sonnenaufgang.", antwortete Jonathan und beobachtete wie der Wind durch Lyras Haare fegte und ihren unverkennbaren Geruch in der Luft verteilte. „Ich habe Marcus versprochen dich nachhause zu bringen."

Lyra nickte nur, stand aber nicht auf. Sie wollte noch weiter starren und für einen Moment nicht darüber nachdenken müssen was sie als nächstes tun sollte.

Jonathan brachte Lyra bis vor ihre Haustür. Er erwartete nicht, dass sie ihn herein beten würde und er verlangte es auch nicht, was nicht hieß, dass er es sich nicht wünschte. Lyra zögerte, als sie in den Flur ging. Sie hatte Jonathan die ganze Autofahrt über angeschwiegen. Sie blickte durch das Glas der Haustür und sah wie Jonathan zurück zu seinem Auto ging. Lyra konnte ihren Herzschlag im ganzen Körper spüren, als sie sich dazu entschied die Tür aufzureißen und „Warte!", zu rufen. Jonathan lief weiter. „Du sollst warten habe ich gesagt!", rief sie ihm hinterher und lief auf die Auffahrt zu. Jonathan drehte sich um und Lyra konnte erkennen, dass er genervt war.

„Marcus hat gesagt ich soll dir noch eine Chance geben.", platzte es aus ihr heraus.

„Und wirst du es tun?", fragte Jonathan trocken.

„Ich...Du hast mir heute das Leben gerettet. Ich bin es dir wohl schuldig.", stammelte Lyra.

Jonathan packte sie an den Schultern und sah sie durchdringend an. „Ich will aber nicht, dass du mir eine Chance gibst, weil Marcus es dir sagt, oder weil du dich schuldig fühlst. Wenn du es nicht selbst willst, ist es nichts wert.", erklärte er, stieg in seinen Wagen und ließ Lyra verunsichert zurück. Lyra dachte lange über das nach was Jonathan zu ihr gesagt hatte.  Wollte sie ihm tatsächlich eine Chance geben, oder fühlte sie sich nur dazu verpflichtet? Sie hatte mittlerweile eingesehen, dass sie möglicherweise etwas überreagiert hatte. Jonathan hatte sich verändert, das wurde ihr mehr und mehr klar. Was ihr aber auch klar wurde war, dass sie sich ebenso verändert hatte. Sie war nicht mehr die Hexe, welche brav die Moral ihres Covens vertrat und sich stets in weißer Magie übte. Sie hatte sich mit dem Feind zusammengetan und erkannt, dass er nur halb so gefährlich war, wie ihr immer erzählt wurde. Dazu musste sie verarbeiten, dass ihre eigenen Reihen ihr mehr Schaden und Schmerz zugefügt hatten als die verteufelten Wesen der Nacht. Zu was machte sie das? War sie ein Querdenker, eine Ausreißerin oder würde Lydia sie sogar als Deserteur bezeichnen? Es spielte keine Rolle mehr für sie was andere von ihr hielten, sie wusste selbst nicht was sie von sich halten sollte.

BloodlineWhere stories live. Discover now