Kapitel 31

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Jonathan fand Lyra in dem Lager neben Leo sitzen und immer wieder dieselben Wörter flüstern. Vita redit. Animus redit. Mortem evanescit. Dabei hielt sie ihre Hände über seiner Brust. Jonathan hörte Leos Herz nicht schlagen. Für ein paar Sekunden stand er reglos im Lager und sah hilflos auf die Situation. Es erschien ihm so unwirklich was er dort sah, aber dann erinnerte er sich an das was Lyra ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte und verstand was passiert war. Er kniete sich zu ihr herunter, nahm ihre Hände von dem toten Körper und sah in ihre verweinten Augen. „Es ist zu spät.", versuchte er es ihr zu erklären und nahm sie in den Arm. „Was habe ich getan?", schluchzte sie. „Ich... ich wollte nur, dass... Er hat es wieder versucht. Ich wollte mich nur wehren.", versuchte sie zu erklären, aber das brauchte sie nicht. Jonathan hatte eine Ahnung davon was passiert war. Er strich Lyra über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen. „Es ist nicht deine Schuld.", erklärte er. „Ich hätte dich nicht alleine gehen lassen sollen." Er sagte das nicht nur, um Lyra zu trösten. Es kam ihm wirklich so vor, als sei es seine Schuld gewesen. Er hätte besser auf sie aufpassen sollen.

Die Party war mit dem Eintreffen des Rettungswagens beendet und der Arzt bestätigte was Jonathan bereits wusste. Plötzlicher Herzstillstand - lautete die Diagnose. Lyra blickte wie in Trance auf die blauen Lichter, als würden diese sie hypnotisieren. Jonathans Arme hielten sie fest, während sie dem Arzt erklärte, dass Leo vor ihr ganz plötzlich umgekippt wäre und sich vorher noch ans Herz gefasst hätte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen bei dieser Lüge. Als Jonathan sie nachhause bringen wollte wurde sie von Laura aufgehalten. Ihr Blick war dieses Mal nicht ganz so eiskalt wie sonst. Sie schien auch betroffen zu sein. Lyra hoffte auf ein paar nette Worte, sie hätten nicht mal ernst gemeint sein müssen. „Ich weiß, dass du es warst.", sagte Laura und es war wie einen Dolch ins Herz gestoßen zu bekommen. Lyra wusste nicht was sie darauf antworten sollte und schaute Laura perplex an. „Deswegen will ich nichts mehr mit dir zu tun haben. Wo du bist sterben Menschen. Ich will nicht auch irgendwann eines deiner Opfer werden.", erklärte Laura, drehte sich um und ging. Das waren die Worte, die Lyra brauchte, um endgültig zusammen zu brechen.

Jonathan war sich nicht sicher wo er Lyra hinbringen sollte, dachte aber, dass es für sie wahrscheinlich besser wäre zuhause zu schlafen. Er brachte sie wie immer bis vor die Tür und würde dann warten bis in ihrer Wohnung das Licht anginge. Er wischte Lyra die Tränen aus dem Gesicht und überlegte, wie er sich wohl am besten verabschieden konnte. „Geh nicht weg.", hörte er sie leise sagen. Er schaute sie fragend an. Damit hatte er nicht gerechnet. Ihre großen braunen Augen blickten ihn an als würden sie in ihm nach etwas suchen. „Lass mich nicht allein, Jonathan. Bitte komm mit rein." Das war eine Einladung. Er hatte so lange darauf gewartet, dass sie ihn hereinbitten würde und jetzt war es endlich so weit. Sehr lange schon hatte er kein Haus eines Menschen mehr betreten und jetzt sprach Lyra die Worte aus, die er sich immer wieder vorgestellt hatte. Es fühlte sich falsch an. Jonathan blickte in die roten, verweinten Augen eines Mädchens, welches vermutlich nach etwas suchte, das er ihr niemals geben könnte. Sie suchte Sicherheit und er war überzeugt, dass er sie vor dem meisten in dieser grausamen Welt hätte beschützen können, aber wie konnte er sich sicher sein, dass er sie auch vor sich selbst schützen könnte. Sie hatte gerade die Mauern einer sicheren Festung eingerissen. Mit einer einfachen Einladung.

Er zweifelte kurz, ob die Einladung überhaupt wirksam war, wenn die Einladende betrunken war. Das war sie definitiv. Vorsichtig setzte er einen Fuß über die Türschwelle und bemerkte, dass es funktionierte. Andererseits waren Häuser mit Mietwohnungen Grauzonen, es konnte auch bloß Glück sein. In einem Haus zu sein, das Menschen gehörte fühlte sich seltsam an - seltsam gut. Er folgte Lyra die Treppe nach oben in den ersten Stock und sah ihr dabei zu wie sie mit ihren zitternden Händen versuchte die Tür aufzuschließen. Es gelang ihr nicht, sie ließ den Schlüssel fallen, er hob ihn auf und schloss die Tür auf. Er wusste nicht was er sonst machen sollte. Lyra sah schlecht aus, leichenblass und verweint. Als sie das Zimmer betrat schmiss sie ihre Jacke auf einen Stuhl und den Schlüssel auf den dazugehörigen Tisch. Jonathan stand immer noch im Türrahmen und war sich nicht sicher was er machen sollte. Er blickte in die vier Wände, die Lyra als Wohnung bezeichnete und stellte fest, dass es vier Fenster ohne Jalousie oder Vorhänge gab. Er sagte also das erste was ihm einfiel: „Ich kann nur bis Sonnenaufgang bleiben."

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