Kapitel 24

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Chloe hatte sich am nächsten Tag einigermaßen fangen können und war bereit Lyra zu zeigen wie sie eine verwelkte Blume wieder zum Leben erwecken konnte. Es war gar nicht so schwer wie sie dachte, aber Blumen sind nun mal auch keine so komplexen Lebewesen wie Menschen. Die beiden verbrachte Tage damit die Wohnung für Chloe gemütlich zu machen und Schutzzauber gegen Vampire zu sprechen. Lyra war sich nicht sicher, ob sie Chloe in ihren Plan einweihen sollte, sie war mittlerweile wie eine kleine Schwester für sie, die sie vor der großen bösen Welt zu beschützen versuchte. Sie sollte nicht an die dunklen Seiten der Magie geraten. Marcus schlief tagsüber in der Bar und nachts versuchte er Bücher über Nekromantie aufzutreiben. Eine Hexe wieder zum Leben zu erwecken, war schwieriger als Lyra gedacht hatte. Hexen bezogen einen Teil ihrer Magie aus ihren Ahnen, zu denen sie auch regelmäßig Kontakt hielten. Dass die Seele der Ahnen dafür an einem bestimmten, unbekannten, übernatürlichen Ort sein musste, war Lyra noch nie so klar gewesen wie jetzt. Sie musste nicht nur den Körper wieder vollständig lebensfähig machen, sondern auch den dazugehörigen Geist finden und ihn dann mit dem Körper verbinden.

Jeder Geist sucht sich einen Körper und kann sich nur durch diesen verfestigen. Es ist nicht möglich einen Geist in einen anderen Körper zu leiten, denn dies würde verheerende Folgen für Körper und Seele haben. Zudem muss für jedes Leben, welches magisch heraufbeschworen wird ein Preis in Form von Blutgeld bezahlt werden.

Marcus las Lyra die Zeilen einer alten Hexe mit einem Schmunzeln vor, während sie im schäbigen Vorraum der Bar, über ein Buch gebeugt saßen. „Der Ansatz mit dem Blutgeld gefällt mir.", bemerkte er belustigt. „Das hat so etwas Theatralisches." Lyra sah ihn mit einem strafenden Blick an. Sie konnte nicht fassen mit welcher Gelassenheit Marcus ihren Plan verfolgte. Zwar war es nicht er, der die ganze Arbeit hatte und dem hinterher das Blut an den Händen kleben sollte, aber er hätte wenigstens versuchen können sich in Lyras Lage zu versetzen.

„Das ist nicht witzig Marcus, hier ist von Mord die Rede.", zischte sie ihn wütend an. „Du hast Recht, das ist eine ernste Angelegenheit. Du solltest üben bevor ich dich damit auf Menschen loslasse.", gestand er und bevor Lyra ihm widersprechen konnte hatte er zwei Mäuse aufgetrieben, von denen eine ein gebrochenes Genick hatte. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", fragte Lyra und hoffte darauf, dass er es verneinen würde. Die lebendige Maus begann sich ihre Ohren zu putzen und auf dem Tisch herumzurennen. Immer wenn sie fast von der Tischkante fiel, fing Marcus sie auf und setzte sie Lyra wieder vor die Nase. Ihr Schicksal war besiegelt. Sie starrte Lyra mit ihren dunklen, kleinen Augen unwissend an und machte ihr damit ein schlechtes Gewissen. „Ich kann das nicht.", sagte sie entschlossen und war im Begriff aufzustehen, aber Marcus hielt sie am Handgelenk fest. „Du wirst es trotzdem machen!", erklärte er mit einem drohenden Unterton.

Lyra sah die Maus an, dann das Buch mit den Siegeln und Zaubersprüchen, die sie für ein nekromantisches Ritual brauchte und letztendlich auf die tote Maus. Ihr Blick wanderte immer wieder zwischen diesen dreien umher und sie spürte wie sie immer unruhiger wurde. „Je länger du wartest, desto schlimmer wird es.", riet ihr Marcus, aber sie wollte es nicht hören. Sie streute einen Salzkreis um die tote Maus, was ihr noch relativ leichtfiel. Die Elemente und Geister aufzurufen kostete sie ebenfalls kaum Überwindung. Erst als sie begann die Formeln über die tote Maus zu sprechen und versuchte ihren Geist wieder in den Körper zu versetzen spürte sie wie sie am ganzen Leib zu zittern begann.

„Anima derivetur in corpus."

Sie konnte spüren, dass sie etwas umgab, das versuchte in den toten Körper zu gelangen. Es konnte nur nicht dortbleiben. Um bleiben zu können, musste Lyra etwas bezahlen und das ließ sie zögern. Marcus zog ein silbernes Messer aus seiner Jackentasche und legte es Lyra in die Hand. „Tu es!", forderte er. Es war die Schuld, die Lyra am meiste fürchtete. Sie wäre schuldig und das für immer. Eine Mörderin - dieses Mal eine leibhaftige, die mit Vorsatz tötete. Diese Schuld würde auch nach dem Tod noch an ihr haften bleiben und es gab keine Aussicht auf Besserung. „Tu es!", forderte Marcus erneut, er schien ungeduldig zu sein. Lyra hob die Klinge über die Maus und flüsterte ein leises „Vergib mir.", bevor sie zum Todeshieb ausholte.

„Pretium solvit.", beendete sie das Ritual mit bebender Stimme und Tränen in den Augen. Ihr Handrücken war mit warmem Blut bespritzt und der Anblick der getöteten Maus ließ sie fast erbrechen, aber sie versuchte in Marcus Gegenwart so stark wie nur möglich zu wirken und ließ es sich nicht anmerken. Vor ihr flackerten Erinnerungen von vergangenen Taten auf, die sie zu verdrängen versucht hatte. Daniels lebloser Körper erschien ihr vor den Augen, als wäre es erst ein paar Sekunden her, dass sie ihn getötet hatte. Sie versuchte dieses Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen, aber das war einfacher gesagt, als getan.  Dass sie die andere Maus wieder zurück ins Leben geholt hatte, bemerkte sie erst als ein zufriedenes „Geht doch.", aus Marcus Mund zu hören war. Lyra versuchte die Gedanken, welche durch ihren Kopf schwirrten zu sammeln aber sie kam nicht darüber weg, dass sie soeben ein Lebewesen getötet hatte und es würde nicht bei diesem Mal bleiben. „Also was probieren wir als nächstes aus? Eine Katze oder etwas Größeres?", fragte Marcus voller Begeisterung.

„NEIN!", schrie Lyra ihn an. „Wir werden gar nichts mehr ausprobieren. Hätte ich gewusst worauf ich mich hierbei einlasse, hätte ich damals in der Bar niemals zugestimmt dir zu helfen. Ich werde Alexandra zurückholen und das war es dann. Kein Töten mehr, das kann ich nicht. So bin ich nicht!", erklärte sie fast Wahnsinnig. Es klebte schon vorher Blut an ihren Händen und es hatte sie verrückt gemacht, zu wissen, dass sie schuld an dem Tod eines Menschen war. Die Bestrafung durch Lydia und ihre Ausrede, dass es Notwehr gewesen war hatten ihr damals geholfen darüber hinwegzukommen, aber das bedeutete nicht, dass sie es vergessen hatte. Dieses Mal war keiner da der sie für ihre schrecklichen taten bestrafen konnte, dieses Mal musste sie selbst damit fertig werden und das machte ihr Angst. Allein die Vorstellung, dass sie das Gleiche wie damals durchmachen müsste ließ sie verzweifeln. Das war nicht das Leben, das sie führen wollte. In den Straßen Parsagadaes machte sich das Gerücht einer jungen Magierin breit, die nicht nur das Geschlecht von Kindern erraten, sondern auch die Kranken heilen und mit Göttern verhandeln konnte. Die Frau, die von diesen Gerüchten zu profitieren versuchte, schlenderte durch eben diese Straßen in denen so häufig von ihr gesprochen wurde. Sie war sich sicher, dass sie das Mädchen finden konnte und hatte schon bald einen Ort genannt bekommen, wo sich die Magierin aufhalten sollte. In einem kleinen einfachen Haus nahe eines Feuertempels fand sie schließlich was sie suchte und sogar noch mehr. Auf einem Teppich saß die Magierin, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Es roch nach Räucherwerk und ein Feuer vertrieb die Kälte der Berge. In mehrere Tücher gewickelt, lag ein Kind im Schoß des Mädchens. Es konnte nicht älter als ein Jahr sein.

„Ich habe gesehen, dass du kommst.", sagte die Magierin und bat durch eine Geste sich zu setzen. 

„Du sagtest du würdest nicht mehr in das Feuer sehen."

„Und doch sehen meine Augen mehr als nur die Gegenwart. Also worum bittest du mich dieses Mal, Artemisia?"

Marcus besaß zumindest den Anstand gegen den Türrahmen zu klopfen, als er Lyra für die Ausführung seines Plans abholen wollte. Er wusste, dass sie sich nicht wehrte solange ein kleiner Hoffnungsschimmer für sie bestand die Blutmagie zu erlernen. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Er hatte ein geeigneter Mann zum Opfern gefunden, Chloe dazu überredet den Ort ausfindig zu machen, wo Jonathan Alexandras Leiche vergraben hatte und sich gut überlegt wie er eine wütende auferstandene Hexe überreden könnte ihn nicht umzubringen. Der letztere Punkt seines Plans war noch nicht so ausgefeilt wie er es gerne gehabt hätte.

BloodlineWhere stories live. Discover now