97| Die letzte Seite

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𝙴 𝙽 𝙴 𝚂

Nach Luft schnappend wachte ich nun schon zum dritten mal von einem Traum auf. Diese Nacht voller Albträume ließ mich kaum ein Auge zu kriegen. Immer wieder das Szenario von heute mit immer wieder einem anderen grausamen Ende, welches ich jedesmal aufs Neue nicht verhindern konnte, weil ich zu spät kam. Zu spät, um sie zu beschützen und zu spät um für sie da zusein. Glücklicherweise lag sie direkt neben mir und ich konnte mich mit nur einem einzigen Blick in ihre Richtung jedesmal wieder beruhigen. Der Anblick ihres unschuldigen Gesichts, wie es friedlich Luft durch die Nase gegen meinen Arm pustete, ließ mich alle meine Albträume sofort wieder vergessen. Winzig klein hatte sie sich wieder einmal gemacht. Ihre Beine bis hin zu ihrem Bauch eingezogen. Nichtsahnend umklammerte sie mich schon die ganze Nacht lang mit einem Arm.

Bevor ich mich darüber zu erfreuen begann, überkam mich die Enttäuschung des gestrigen Abends, der all meine Wünsche erfüllt hatte. Nichts beschrieb letzte Nacht besser als eine glasklare Paradoxie oder eine widerspruchsfreie Antinomie. Alles, worauf ich seit einem Jahr schon hoffte, hatte ich gestern direkt vor meiner Nase gehabt und gleichzeitig nie ergreifen können, weil es nicht echt war. Ihre Gefühle, ihre Zuneigung, ihr Bedürfnis nach meiner Nähe und ihre Begierde nach mir waren alles Dinge, die ich hatte, ohne sie wirklich zu haben. Als wäre die Sehnsucht nach all dem was ich nie hatte nicht bitter genug gewesen, kam nun auch noch die Sehnsucht nach all dem, was ich eigentlich nie hatte, aber für einen winzigen Moment zu schmecken bekam hinzu. Die süßeste Substanz legte sich auf meine Zunge, doch ein Geschmack, noch bitterer als Denatonium breitete sich in meinem Mund aus.

Ihr Schlaf schien sich zu lösen. immer unruhiger drehte sie ihren Kopf hin und her und murmelte klagend etwas vor sich hin, bis sie schlussendlich aufwachte. Ihre Augen öffneten sich und nach einem kurzen Moment der Verwirrung bemerkte sie mich und keuchte schockiert auf.

,,Guten Morgen Popel!" Belustigt grinste ich sie an, nachdem sie vor Schrecken zusammengezuckt war und mich ansah, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. ,,Ahh!", kreischte sie plötzlich auf, als sie bemerkte, dass ihr Arm auf mir lag und versuchte sofort ihn wegzuziehen, um sich von mir zu entfernen. ,,Nicht so schnell!" Ich hielt sie fest und hinderte sie vom Aufstehen. ,,Wie gehts dir? Hast du noch Kopfweh?", besorgt legte ich meine Hand auf ihre warme Stirn, da ihre Wangen gerötet waren. Ich hatte keinen blassen Schimmer, ob eine Nebenwirkung von diesem Zeug auch Fiber sein könnte, dennoch machte ich mir Sorgen. ,,Ein bisschen", murmelte sie Schüchtern. Völlig verunsichert rutschte sie mit ihrem Körper etwas weiter unter die Decke, sodass nur noch ihr Kopf und ein Arm rausschauten. Diesen Arm zog sie dann auch langsam von mir weg, blieb aber trotzdem noch neben mir liegen. ,,Erinnerst du dich an gestern?" Etwas riesengroßes und überaus irrationales in mir wünschte sich so sehr, dass sie mit ,ja' antworten würde. ,,Nur ein bisschen" Ihre Augen huschten hin und her, als sie versuchte sich zu erinnern. ,,Ich.. ich weiß nicht mehr so genau. Du hast mich von dieser komischen Party irgendwann abgeholt.. Daran erinnere ich mich bruchweise.. Bin ich mal wieder eingeschlafen?" Kaum zu übersehen...Ihre Verwirrung und ihre langsam aufkommende Panik. ,,Ehm.. Nicht ganz" Seufzend drehte ich mich zu ihr. So vorsichtig wie nur möglich musste ihr erzählt werden, was gestern alles vor sich ging. Mit jedem meiner Worte weiteten sich ihre Augen etwas mehr. Sie konnte sich nur an ganz schwammige Bilder erinnern. Aufgeregt fing sie an immer schwerer zu atmen. Ich hatte diese Reaktion bereits vorhergesehen. Jemandem wir ihr die Kontrolle über sich selbst zu nehmen, war so, als würde man einem Marathonläufer seine Beine oder einem Klavierspieler die Finger entfernen. Ich musste behutsam sein. alles würde ich lieber tun, als eine Panikattakte bei ihr zu verursachen. Fast hechelnd holte sie nun immer zittriger Luft. ,,Wer war das? Er ist doch nicht hier oder Enes? Er.. kann doch nicht hier her gekommen sein, oder? Oder.. vielleicht Caner?.. Oder jemand, den er kennt?..Was ist, wenn.."

Ego vs. EgoWhere stories live. Discover now