75| Abstrakte Malerei

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𝙴 𝙽 𝙴 𝚂

Stundenlang hing sie entweder an ihrem Handy, vergrub ihre kleine Nase in einem Buch oder sah still aus dem Fenster. Ich war so nah bei ihr - direkt neben ihr. So nah, dass ich die ganze Zeit ihr Parfüm in meiner Nase hatte. So nah, dass sogar in einigen Kurven unsere Schultern sich streiften. Kein Wort sprachen wir miteinander.

Der Tag, an dem sie ein letztes mal mit mir auf dem Dach war, war etwas ganz besonderes, doch nach diesem Tag hatte sich alles noch viel mehr verschlechtert. Wir hatten uns noch viel mehr voneinander entfernt und wurden immer fremder zueinander obwohl ich bei jedem mal, wenn wir aneinander vorbeiliefen oder in der Schule nebeneinander saßen, diese unheimliche Spannung spüren konnte.

Räumlich betrachtet waren wir uns so nah doch man konnte die Distanz zwischen uns deutlicher spüren als je zuvor.

Ich musste jedes mal schlucken, wenn ich an ihre Aktion von vorhin dachte. Ich wusste genau, dass ich sie besser kannte als jeder andere doch gleichzeitig war sie mir noch immer ein riesen großes Rätsel.... Oder eher ein Puzzle.. Eines ohne Bild, ohne Muster. Jedes Puzzleteil hatte eine andere Farbe. Sie passten alle irgendwie zusammen aber das Endergebnis  würde eher aussehen wie eine abstrakte Malerei. Viel Spielraum zur Interpretation und viel zu wenig klare Antworten, was einen immer mehr reizte, seine Augen nicht davon zu entfernen.

Ich bin so frustriert mit mir selbst, dass ich ihren scheiß Namen nicht aus meinem Kopf bekam. Egal was ich tat, wie sehr ich es auch versuchte.. irgendwie schlängelten sich diese melodisch aneinandergereihten Buchstaben immer wieder zurück in mein Gedächtnis.

Mittlerweile glaubte ich, dass Tolga recht hatte. Sie war wirklich mein Karma.
Alles, was ich Mädchen in meiner Vergangenheit angetan habe, wie ich sie behandelt habe und verrückt gemacht habe mit meiner Ignoranz, meinem Desinteresse und meiner abgehobenen Art, die ihnen immer das Gefühl gab unerwünscht und unwichtig zu sein.. genau das bekam ich als gebündelte Energie in Form eines winzigen Popels wieder zurück.

Ich könnte auch versuchen, irgendwie wieder näher an sie ranzukommen aber dafür war mein Ego viel zu groß. Außerdem, weiß ich nicht einmal, ob ich das überhaupt wollte oder was genau ich wollte..

Mein größtes Problem an der ganzen Geschichte ist einfach, dass ich nichts und niemanden mehr interessant finden kann.
Ich frage mich, wie diese ganzen Menschen, die jemals ein Teil ihres Lebens waren, sie wieder vergessen konnten.
Ich hatte das Gefühl, das jedes Wort was ihren Mund verlässt immer durchdacht und gezielt ist. Jedes Wort von ihr hat eine Bedeutung und ritzt sich mit einem süßen Schmerz unter die Haut. Sie redete nie viel.. aber wenn, dann fand sie jedesmal die richtigen Worte.

,,Kannst du dein Ladekabel abmachen ? Mein Akku ist leer. Würde auch gerne aufladen", unterbrach sie meinen Gedankengang mit etwas weniger revolutionären Worten

,,Mhhh.." Ich überlegte kurz ,,Nö" Unbekümmert zuckte ich mit den Schultern und erntete einen entsetzten Blick von ihr.

,,Umut wird's überleben, wenn seine kleine Prinzessin ihm für ein paar Stunden nicht schreibt.", provozierte ich sie.
Eigentlich wollte ich nur irgendeine Reaktion von ihr bekommen.

Mein größter Trost war immer, dass ich mir sicher war, dass kein anderer Junge sie bekommen könnte. Deswegen war ich mir auch so sicher, dass das Gerücht mit Umut nur Schwachsinn wäre.. doch dann fielen mir Leylas Worte ein.
Genau das hatte sie auch über mich gedacht..

Sie lachte nur kopfschüttelnd. Ich weiß noch immer nicht, was an diesem Gerücht dran war, da sie einfach keine Reaktion zeigte. Absichtlich. Sie war viel zu gut in diesem Spiel.

,,Ihr könnt auch ganz oldschool Zettelchen schreiben.. Ich meine er sitzt nur 6-7 Reihen weiter hinten.", versuchte ich noch einmal mein Glück.. und hoffte wieder darauf, dass sie irgendetwas sagte, was das Gerücht verneinen würde.

,,Lustig, dass du mir diesen Rat gibst, wo es mir doch so scheint, als hättest du heute früh anscheinend etwas mehr gemacht, als nur Zettelchen geschrieben" Triumphierend sah sie mich an. Ich wusste, dass sie nur darauf wartete etwas auszuspucken doch ich konnte nicht ganz verstehen worauf sie hinaus wollte.

Fragend blickte ich sie an.

Sie griff den Kragen meines Shirts und zog ihn so hoch, dass ich ihn sehen konnte.

Fuck. 

Dort war Lippenstift... Von einem Mädchen, bei der ich übernachtet hatte. Ich Idiot.

,,Da muss einiges mehr passiert sein, als Zettelchen schreiben. Ich rieche sogar ihr Parfüm die ganze Zeit." Sie wedelte mit der Hand ein wenig Luft in ihre Richtung. ,,So weit ich mich erinnere, magst du solche Düfte nicht.. Naja, man nimmt was man kriegt, nicht wahr?", lachte sie mich provokant an, als sie aufstand und versuchte sich an mir vorbei zu quetschen um eine Stelle zu finden, wo sie ihr Handy laden konnte.

Gerade, als sie mit dem Rücken zu mir stand und mit Tippelschritten versuchte, sich vor mir vorbei zu schlängeln griff ich in ihre hintere Hosentasche und zog sie mit einem Ruck zur mir, so dass sie mir auf den Schoß fiel. Erneut.

Es ist bereits dunkel und die meisten Schüler im Bus waren schon am schlafen.

,,Du bist ganz schön frech geworden",
flüsterte ich ihr ins Ohr und bemerkte, wie sie ihr Schmunzeln unterdrücken wollte.

,,Ich war schon immer frech.. Aber ich werfe dir nichts vor. Kein Wunder, dass es dir zuvor nicht aufgefallen ist... Immerhin hattest du eine Wette auf die du dich konzentrieren musstest" Stechend blickte sie mich an und ich wünschte mir in dem Moment so sehr, dass es wenigstens ein wenig heller wäre, sodass ich ihre giftig grünen Augen erkennen konnte.

Ich lachte nur leicht. Sie wollte mich absichtlich provozieren.

Ich drehte meine Cappy nach hinten um und führte meine hand an ihre Taille und spürte sofort ihre Anspannung. Sie versuchte ihr Gesicht und ihren Atem zu kontrollieren um mir nichts anmerken zu lassen.
Ruckartig zog ich sie auf meinem Schoß noch ein stück näher an meinen Körper ran.
Ihre beiden Beine taumelten rechts von mir.

Vor Schreck atmete sie schnell auf, was mich zum schmunzeln brachte.
Langsam streifte ich ihre Haare von ihrer Schulter runter und bemerkte, wie sie das leicht kitzelte.
Ihr Körper berührte meinen so intensiv, dass ich mir sicher war, dass sie mein Herzschlag spüren konnte.
Erneut näherte ich mich ihrem Ohr.

,,Du hast heute anscheinend eine große Portion Mut gefrühstückt.", flüsterte ich und sah wie sich eine zarte Gänsehaut auf ihrem Rücken breit machte.

Sie drehte ihren Kopf zu mir und legte ihre Hand auf meiner Brust ab.
Ich konnte genau erkennen, wie sie gerade irgendeinen fiesen Spruch plante, als sie sich auf die Unterlippe biss.

Ich würde nichts lieber tun gerade, als sie einfach zu küssen.

Langsam beugte sie sich zu meinem Hals und machte ihren Atem dort deutlich spürbar, als sie hoch zu meinem Ohr fuhr.

,,Die Portion war sogar größer als der Arsch deiner Bitch von heute früh", hauchte sie mir ins Ohr und fing darauf hin an leicht kichern.

Kleine Hexe.

,,Und jetzt lass mich los", flüsterte sie und sah mich dabei an.

Ein wenig Luft stieß mir aus der Nase, als ich etwas schadenfroh lachen musste. Ich hob meine beiden Hände gut sichtbar für sie an.

,,Ich halt dich doch die ganze Zeit gar nicht fest... Du sitzt hier freiwillig.. und das nicht zum ersten mal", provokant grinste ich sie an, bevor sie sich wütend von mir runter stieß und fortlief um eine freie Ladestation für ihr Handy zu finden.

Es könnte so viel Zeit vergehen wie es wollte,
so viele Diskussionen stattfinden wie nur möglich....
Jede Berührung wird sich jedesmal so vertraut anfühlen wie früher.

Ego vs. EgoWhere stories live. Discover now