2. Blaue Augen

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Mit Tränen in den Augen schaue ich in die leuchtenden blauen Augen meines Vorgesetzten. Ich versuche meinen Blick abzuwenden, doch ich kann mich einfach nicht bewegen. Das ist unmöglich! Wie kann das sein, dass er meinen Körper mit einem einzigen Blick unter Kontrolle hält. Panik steigt in mir auf. Meine Muskeln verkrampfen sich. Was passiert hier mit mir?

Unzählige Male habe ich mir ausgemalt, wie ich sterben werde. Und nicht ein einziges Mal habe ich daran gedacht, dass ich von einem Monster getötet werden könnte. Jedoch scheint das Schicksal für mich etwas anderes vorgesehen zu haben.

Ich bin ihm erbarmungslos ausgeliefert. Wenn ich Glück habe, lässt er mich am Leben. Wenn ich Pech habe... Ich schlucke.

Er hat die Gestalt eines Menschen, aber er ist keiner. Denn seine Augen verraten ihn. Er trägt einen schwarzen Anzug, der ihn professionell wirken lässt. Trotzdem scheint er nicht ganz hierher zu passen. Tatsächlich gehört ihm "Die Nacht". Wer trägt auch schon einen schwarzen Anzug in einem Restaurant? Kein normaler Mensch würde so etwas machen, nur hier scheint es ganz anders zu sein. Das sind seine Regeln... Dieser Mann hat mich in seine Welt entführt.

Er wirkt gepflegt. Seine braunen Haare sind kurz geschnitten; seine Haut ist makellos; sein dunkler Bart verdeckt die Hälfte seines Gesichts und sein Lächeln ist freundlich. Vielleicht ein wenig zu freundlich. Es wirkt quasi gekünzelt. Etwas was ihn von den anderen unterscheidet, ist, dass er klein ist. Möglicherweise ist er 1,65 m. Er ist keine Schönheit, trotzdem strahlt er eine Autorität aus, die jeden dazu zwingt ihm zuzuhören. Vermutlich liegt es auch nur daran, dass er andere kontrollieren kann.

,,Gibt es ein Problem, meine Damen und Herren?", sagt er und ich erschaudere als ich seine tiefe Stimme höre. Es ist merkwürdig. Diese Wesen haben ihre eigene Sprache, aber er redet in Deutsch, sodass ich ihn auch verstehen kann. Manchmal frage ich mich, warum er das tut. Er könnte mich im Dunkeln lassen, er tut es jedoch nicht. Er will, dass ich alles verstehe und mitbekomme, was gesprochen wird.

Niemand antwortet. Im Hintergrund höre ich, wie einige wieder an ihre Tische zurückkehren und mit dem Essen fortfahren. Das Besteck klirrt; das Schmatzen erfüllt wieder den Raum und leise Gespräche starten wieder. Die Aufmerksamkeit auf diesen Streit scheint sich aufgelöst zu haben.

,,Fassen Sie meine Mitarbeiterin nicht mehr wieder an. Ich brauche Sie noch für eine Weile", sagt mein Chef mit einem neutralen Ton, während er ein paar Schritte näher zu mir kommt. Noch immer existiert eine deutliche Distanz zwischen uns.

Der Druck an meinem Handgelenk lässt nach und ich bin überglücklich, als ich dieses Monster nicht an meiner Haut spüren muss. Dennoch kann ich nicht nach hinten schauen, um zu sehen, was der Kleinere vorhat. Ist er auch in dem selben Zustand wie ich? Wird er auch kontrolliert? Ich bin immer noch gefangen und mein Blick ist stets auf mein Chef gerichtet.

,,Amelie, geh bitte auf dein Zimmer. Deine Schicht ist so gut wie vorbei. Wir sehen uns morgen wieder", sagt er, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Regel Nummer fünf: Gehorche dem Mann mit den blauen Augen.

Ich schlucke und merke langsam, wie ich wieder die Kontrolle über mein Körper bekomme. Mein Herz pocht wie verrückt, es schmerzt in meiner Brust. Ich wische mir über die Tränen, die mir unbewusst über mein Gesicht gefallen sind.

Paar Sekunden später kann ich endlich wieder laufen und spüre jede einzelne Faser meines Körpers. Ich renne weg. Immer weiter vorwärts. Immer weiter weg von hier. Ich traue mich nicht, meinen Chef nochmal anzusehen. Das Adrenalin treibt mich voran. Schnell laufe ich an ihm vorbei, gehe den Flur entlang, an der Umkleide vorbei und dann die Treppe hinauf, die mich zur ersten Etage führt, wo sich am Ende des Flurs mein Zimmer befindet.

Als ich mein Zimmer erreiche, beginne ich leise zu weinen. Meine Tränen fließen mir über das Gesicht und ich spüre, wie dick meine Augen anschwellen. Ich fühle mich schrecklich.

Der Mann mit den blauen Augen...

Er hat mich entführt und mich in diesen Ort eingesperrt. Ich gehöre nun ihm und das hat er mir heute verdeutlicht. Ich lebe noch, weil er über mein Leben entscheidet. Ohne ihn wäre dieses Monster über mich hergefallen und ich wäre tot gewesen. Doch ich weiß, dass er etwas böses im Schilde führt. Warum beschützt er uns? Warum bin ich überhaupt hier? Warum ausgerechnet ich?

Ich schaue mich in meinem eigenen Zimmer um. Mein Raum ist klein. Das Bett befindet sich vor dem Fenster. Direkt daneben ist ein kleiner Kleiderschrank. Auf der anderen Seite des Raum befindet sich ebenso eine Tür, die zum winzigen Bad führt. Die Wände sind weiß gestrichen und kahl. Dieser Raum erinnert mich an ein Gefängnis. Ein kleines Fenster über mein Bett, die mir die Sicht auf die vollen Straßen zeigt. Sonst befindet sich hier nichts. Ich habe nicht einmal persönliche Gegenstände in diesem Raum. Ich trage nicht meine eigene Kleidung, sondern die Kleidung von meinen Vorgängern, die hier in diesem Zimmer gewohnt haben. Ich bin nur einer von vielen ...

Ich habe von einer Frau gehört, die ein paar Zimmer weiter wohnt, dass mein Vorgänger sein Leben in diesem Zimmer beendet hat. Zu Beginn habe ich meiner menschlichen Freundin nicht geglaubt, aber als ich die Blutspuren an den Wänden gesehen habe, habe ich sofort gewusst, dass es stimmt. Mein Chef hat sich nicht mal die Mühe gemacht, das Zimmer vollständig zu säubern. Ich habe mehrere Tage gebraucht, um alle Spuren meines Vorgängers zu verwischen. Doch ich konnte nicht alles entfernen. Mein Gehirn sagt mir, dass ich eventuell auch so enden werde. Auch mein Blut wird an dieser Wand landen. Die Frage ist nur wann dieser Zeitpunkt sein wird.

Ich wische mir die Tränen weg und lege mich auf mein Bett. Vielleicht wird es eines Tages besser. Vielleicht kann ich irgendwann nach Hause.


Monster -Die schöne IllusionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt