4. Der Fremde

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Der Fremde läuft mit festen Schritten in meine Richtung und setzt sich dann auf den freien Platz am Tresen. Ich gehe auf ihn zu und lächele ihn freundlich an, dabei verfolgen seine Augen jede Bewegung von mir. Er sagt kein einziges Wort. Jetzt ist es an der Zeit, meine Arbeit zu erledigen, und zwar so gut ich kann. Ich straffe meine Schulter und sage zu mir selbst: ,,Ich schaffe das".

,,Was kann ich für Sie tun? Wollen Sie etwas zu trinken oder etwas zu essen?", frage ich. Ich hasse diese vorgetäuschte Freundlichkeit, aber sie muss sein, wenn ich hier überleben will.

Er neigt seinen Kopf leicht nach rechts und hört nicht auf, mich anzustarren. Langsam mache ich mir Bedenken, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, ihn anzusprechen.

Irgendwann öffnet er sein Mund und er sagt etwas, dass ich nicht verstehe. Ich höre Laute, die ich noch nie gehört habe. Er bemerkt mein verwirrtes Gesicht und sagt dann: ,,Ist Noe hier?".

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. ,,Ich weiß nicht, wer das ist, um ehrlich zu sein", flüstere ich verunsichert. Oh nein, hätte ich das wissen müssen?

,,Dein Chef. Ist dein Chef hier?", stellt er noch einmal klar und endlich macht es in meinem Kopf Klick. Schnell nicke ich und sage dann: ,,Er ist im Büro".

Wenn ich ehrlich bin, sehe ich meinen Boss nur sehr selten. Obwohl er der Besitzer des Restaurants ist, scheint er nicht sehr oft anwesend zu sein. Die meiste Zeit ist er im Büro und kommt nur bei sehr seltenen Gelegenheiten heraus, wie bei dem Vorfall, der mich fast das Leben gekostet hätte. Seit ich hier bin, habe ich ihn nur drei Mal gesehen.

Es entsteht eine Stille. Es ist mir unangenehm, seinen Blicken ausgeliefert zu sein. Ich versuche es tatsächlich noch einmal. Der Boss will Kunden und am liebsten Geld. Schließlich muss das der Grund sein, warum ich hier bin.

,,Wollen Sie etwas zu Trinken oder etwas zu Essen?", wiederhole ich meine Frage von vor paar Minuten. Dabei versuche ich meine Stimme so klar wie möglich zu halten. Ich will nicht, dass er merkt, dass ich nervös bin. Ich bin sicher, dass diese Kreaturen Schwäche riechen können.

Er seufzt und zieht das Tuch von seinem Gesicht herunter. Ich habe nun die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Er hat Flecken im Gesicht. Schwarze und weiße Flecken, die seinen Mund und seinen Hals bedecken. Er hat ein sehr markantes Gesicht und ich muss zugeben, dass er wirklich gut aussieht. Vor allem, weil er menschlich aussieht und nicht wie einige andere Monster, die wie Tiere oder entstellt aussehen. Seine schwarzen Augen verfolgen mich immer noch.

,,Gib mir den teuersten Getränk", erwidert er, leckt sich über die vollen Lippen und stützt dann sein Kinn auf der Handfläche ab.

Sofort nicke ich und wende mich von ihm ab, um zum Getränkefach zu gehen. Ich hole das Getränk und schütte es in ein Glas ein. Die Flüssigkeit ist dunkelrot. Ich beiße meine Zähne zusammen. Ich hoffe, es ist kein Blut. Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, was ich hier über die Theke bringe.

Ich reiche ihm das Getränk und er nimmt sofort einen großen Schluck. Sein blondes Haar fällt ihm dabei ins Gesicht. Langsam schaue ich mich nach Stefan um. Er sieht mich besorgt an, wie immer. Vielleicht kennt er diesen Mann? Wer weiß ...

Ich schenke Stefan ein aufrichtiges Lächeln und fokussiere mich wieder auf den Kunden. Er beobachtet mich immer noch. Ich frage mich, ob er mit mir reden will. Reden... Ist das nicht das, was Kellner tun? Verdammt, aber wenn ich etwas falsch mache, bin ich erledigt. Genau, am besten halte ich den Mund.

,,Seit wann bist du hier?", fragt er plötzlich und beäugt mich neugierig von seinem Platz aus. Ich sehe ihn erstaunt an. Er scheint wirklich interessiert zu sein, aber vielleicht täusche ich mich auch. Ich beiße mir auf die Zunge. Soll ich ihm antworten? Ich seufze. Ich hoffe, ich sage nichts Falsches.

Regel Nummer Sechs: Antworte jeden Kunden.

,,Ich weiß es nicht. Vielleicht einige Tage. Ich habe nicht mitgezählt", antworte ich ehrlich und zucke mit den Schultern. Mit Lügen bin ich noch nie gut gewesen und mit der Wahrheit kann ich im Moment nichts falsch machen. Ich nicke, zufrieden mit meiner Antwort.

Es wird wieder still. Es ist mir so unangenehm. Stefan kümmert sich so schnell um alle Gäste und ich komme einfach nicht weg von hier. Stefan hat mir erzählt, dass die Arbeit an der Theke schlimmer ist, weil man manchmal reden muss. Manche Monster scheinen gesprächig zu sein und mögen den Kontakt mit Menschen. Andere wiederum nicht...

,,Deine Haare", sagt er, ,,sehen gut aus". Ich schaue ihn irritiert an. Warum dutzt er mich die ganze Zeit? Warum macht er mir ein Kompliment?

,,Soll ich dir eine Geschichte über deinen Chef erzählen? Die Geschichte ist ziemlich spannend", sagt er plötzlich mit einem Lächeln im Gesicht und wechselt das Thema. Oh Mann, er will wirklich mit mir reden.

,,Ich würde die Geschichte gerne hören", antworte ich und schenke ihm ein schüchternes Lächeln. Er grinst und fängt sofort an.

,,Es war vor einer langen, langen Zeit. Vielleicht vor fünf Jahren oder mehr. Wir hatten wieder eine unserer Feiern. Vielleicht bekommst du es bald mit, wenn du überlebst", sagt er und zwinkert mir zu. Ich bekomme eine Gänsehaut. Was genau meint er damit? Habe ich schon einen Todestag?

,,Dein Boss hatte einmal einen guten Freund. Die beiden kamen sehr gut miteinander aus und halfen sich gegenseitig, wenn einer von ihnen ein Problem hatte. Irgendwann hatten die beiden einen Streit, aber es war kein normaler Streit, den die beiden von Zeit zu Zeit hatten. Ich kann dir nicht genau sagen, worum es ging, aber es muss sehr schlimm gewesen sein, denn sie wollten sich gegenseitig umbringen". Er hält inne und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Getränk.

,,Der alte Freund wollte etwas von deinem Boss, aber dein Boss wollte nicht helfen. Was, glaubst du, ist danach passiert? Ich werde es dir sagen. Der Freund schickte einige Kollegen zu deinem Chef, um ihn umzustimmen. Aber Reden allein hilft manchmal nicht, und so kam es sogar zu körperlichen Angriffen. Als all diese Mittel nichts genutzt haben, kam der Freund wieder vorbei. Es endete wieder mit einem Streit. Siehst du dieses Schild: Kämpfen verboten?", fährt er fort und deutet auf das Schild. Ich nicke.

,,Hast du dich nie gefragt, was es mit all diesen Regeln auf sich hat? Kämpfen ist verboten, wirklich? Schlägereien gibt es überall, aber hier will er das nicht. Du wirst bald herausfinden, dass es hier mehr versteckte Regeln gibt, als du denkst. Nicht alle Regeln stehen an den Wänden. Sei also vorsichtig. Hier gibt es viele Geheimnisse, die nicht für jedes Ohr bestimmt ist". Er hält wieder inne und schaut auf seine Hände.

,,Glaubst du, dass der Freund deines Chefs überlebt hat? Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass der Freund am Boden lag und sich nicht gegen dein Chef wehren konnte? Beide haben viele Schläge eingesteckt. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass dein Chef ein Messer genommen hat und dieses Messer dann auf seinen... " Plötzlich hält er inne und sein Blick wandert in eine andere Richtung.

,,Hier scheint jeder einen zu beobachten", flüstert er und presst dann seine Lippen zusammen.

Verdammt, warum hört er jetzt auf? Was ist passiert? Was hat mein Chef getan? Der Kiefer des Mannes spannt sich an, und dann wird mir klar, dass ich aufmerksam sein sollte. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Ich spüre diese unsichtbare Kraft, bevor ich sie sehe. Ich folge seinem Blick.

Mein Chef. Er steht da und hat ein breites, böses Grinsen im Gesicht. Er hat uns erwischt. Das ist nicht gut ...


Monster -Die schöne IllusionWhere stories live. Discover now