23. Distanz

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Nach dem Tod von Stefan ist es schwer gewesen. Jedes Mal, wenn ich an seinem Zimmer vorbei gelaufen bin, habe ich gehofft, dass er irgendwann durch die Tür kommt und mich mit einem schüchternen Lächeln begrüßt, aber das ist natürlich nicht passiert. Das Zimmer ist wieder von jemandem bewohnt, der seit zwei Wochen neu hier ist. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Jetzt verstehe ich, warum niemand mit mir reden wollte, als ich zum ersten Mal hierher kam.

Zwei Monate lang habe ich versucht, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich jemanden Wichtiges verloren habe. Wie immer lächle ich jeden Kunden an, erledige meine Arbeit und gehe danach schlafen. Nach einiger Zeit konnte ich mit der Situation besser umgehen. Die Zeit hat mir geholfen. Leonie ist damit nicht so einfach klar gekommen. Sie redet nicht mehr so viel wie früher. Sie beschränkt die Gespräche auf ein Minimum und ihr Lächeln ist an dem Tag, an dem Stefan gestorben ist, verschwunden. Ich habe mein Bestes gegeben, um auch sie nicht zu verlieren, aber es hat nicht funktioniert. Sie bleibt auf Distanz, egal was ich tue. Als ich das letzte Mal bei ihr gewesen bin, hat sie mich angeschrien und mich geschlagen. Es hat weh getan, aber ich konnte es ertragen. Ich weiß, dass es ihr nicht gut geht. Ich muss sie verstehen.

Ich weiß, dass der Tod hier an der Tagesordnung steht. Als ich hierher gekommen bin, habe ich mich vor dem Tod gefürchtet, und ich habe gewusst, dass ich vorsichtig sein muss. Aber jetzt merke ich, dass ich diese Angst vergessen habe. Ich bin von dieser Welt und dieser glücklichen Illusion geblendet worden. Ich habe gedacht, dass es mir hier gut gehen würde und dass mir nichts passieren könnte, wenn ich die Regeln befolge. Aber nicht jeder hält sich an die Regeln. Regeln sind da, um für Ordnung zu sorgen, aber andere wollen sie brechen. Mein Chef hat mir gesagt, ich solle immer achtsam sein, und ich habe es einfach auf die leichte Schulter genommen. Das ist dumm von mir gewesen. Jetzt muss ich mit dieser Situation leben.

Mein Chef hat sich in all dieser Zeit kaum verändert. Am nächsten Tag hat das Restaurant wieder normal ausgesehen. Es schien, als sei nichts geschehen. Vielleicht ist es gut, dass ich von dieser Situation nichts mehr sehen kann. In meinen Träumen bin ich mir jedoch nicht sicher. Dort kann ich den Toten nicht fliehen.

Heute sitzt mein Chef in der Nähe und wacht über uns. Manchmal frage ich mich, ob er auch wegen mir hier ist, oder weil er auch seine Kunden schützen will. Ich weiß, dass er viel über sein Restaurant nachdenkt. Manchmal wünsche ich mir, dass er mich einfach mit mehr Herzlichkeit ansehen könnte.

Die Kunden verhalten sich wie immer. Natürlich weiß ich, dass ein kalter Krieg im Gange ist, aber die Kunden haben diese Belastung nicht so deutlich gemacht. Keiner spricht das Offensichtliche aus. Laute Unterhaltungen. Lachen aus einigen Ecken und Geplapper erfüllen das Restaurant. Das ist normal. So sollte es auch sein.

An manchen Tagen sehe ich jemanden, der den Chef besuchen will. Ich weiß, dass es wegen des Krieges ist, aber oft geht der Besucher wütend aus dem Restaurant. Als ich heute nach der Arbeit zurück in mein Zimmer gehen wollte, bin ich langsam an der Tür meines Chefs vorbeigegangen.

Plötzlich öffnet sich die Tür und ein Kollege von mir läuft aus dem Büro. Ich nicke ihm zu, aber er betrachtet mich nicht. Er läuft weiter.

Jetzt stehe ich hier vor der Tür meines Chefs. Ich drehe mich zur offenen Tür und erblicke ihn. Er beobachtet mich. Ich atme laut aus und gehe dann einige Schritte in sein Büro und schließe die Tür hinter mir.

In der Mitte des Raumes starre ich ihn an. Ich spüre seine Katze, die sich an mein Bein schmiegt, und den Blick seines Hundes, der in der Ecke auf dem Boden liegt. Er macht keine Anstalten, etwas zu sagen. Warum eigentlich nicht? Warum sagt er nie etwas? Warum fragt er mich nicht, warum ich hier bin? Was ich von ihm will? Warum fragt er mich nicht, wie es mir geht? Er tut nichts davon.

In all dieser Zeit haben wir nie ein richtiges Gespräch geführt. Natürlich haben wir geredet, aber ich habe das Gefühl, dass er immer über die einfachen Dinge sprechen möchte. Er hat mir erzählt, warum er dieses Restaurant liebt. Vor ein paar Wochen hat er mir viele Fragen über meine Vergangenheit gestellt, während ich müde in meinem Bett lag. Wir haben in den letzten Wochen so viel geredet, aber irgendwie ist es auch nicht mehr geworden. Irgendetwas hält uns auf Distanz.

Wenn ich diese Distanz spüre, tue ich immer dasselbe. Ich renne zu ihm und umarme ihn. Er ist immer schockiert und weicht zurück, wenn ich ihn berühre. Aber er gewöhnt sich schnell daran. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und höre seinem Herzschlag zu. Ich beruhige mich ein wenig, aber ich weiß, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann. Es wird etwas Schlimmes passieren. Ich weiß es. Und ich bin sicher, dass er es auch weiß.

Ich will eine Beziehung, aber was will er? Hat er Gefühle für mich? Selbst wenn er Gefühle für mich hätte, würde er es mit mir versuchen?

Ich seufze. Ich löse mich aus der Umarmung und entferne mich dann ein paar Schritte von ihm. Ich sehe ihn an und lächle. Ich muss mich endlich akzeptieren und das sagen, was mir schon lange auf der Zunge liegt, auch wenn es mir schwer fällt. Ich atme laut ein und aus und schaue ihm in die Augen.

,,Ich liebe dich. Und ich hoffe, dass du mich eines Tages auch so lieben kannst."

Monster -Die schöne IllusionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt