10. Freunde

177 5 0
                                    

,,Mach die Tür auf, Stefan. Bitte, du kannst dich nicht wegschließen und mir jeden Tag aus dem Weg gehen. Bitte, mach die Tür auf. Ich mache mir Sorgen um dich!", sage ich besorgt und klopfe mehrmals an die Tür des Zimmers, in dem sich Stefan seit langem versteckt hält.

,,Stefan, bitte, ich bin nicht sauer auf dich, ok? Ich kann verstehen, warum du es das letzte Mal getan hast. Ich habe es bereits vergessen und dir verziehen. Ich weiß, du hast es nicht so gemeint", versuche ich erneut, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, aber er öffnet immer noch nicht die Tür.

Warum muss das so sein? Warum kann er mir nicht die Tür öffnen und die Situation endlich klären? Ich habe ihm bereits gesagt, dass ich ihm nicht böse bin und dass ich verstehen kann, warum er so reagiert hat, wie er es getan hat. Es hat mich verletzt, aber ich habe es überlebt.

,,Stefan, bitte...", flehe ich und drücke meine Stirn gegen die Tür. Das ist anstrengender als ich gedacht habe. Wie kann ich zu ihm gelangen, damit er die Tür öffnet und sich der Situation stellt?

,,Bitte...", wispere ich und kneife die Augen zusammen. Warum muss alles so kompliziert sein? Warum muss ich hier sein? Warum konnte es nicht jemand anderes sein?

Ich atme tief ein und aus. Dann auf die harte Tour.

,,Weißt du, ich dachte, wir wären Freunde, aber ich sehe deutlich, dass du mich nicht schätzt. Ich dachte, wir würden uns gut verstehen und könnten über alles reden, aber jetzt weiß ich, dass du mich nicht so siehst. Du läufst weg und versteckst dich in deinem Zimmer, wenn etwas passiert. Du...", ich halte inne. Verdammt, willst du wirklich, dass ich gemein werde? Er macht die Tür immer noch nicht auf.

,,Du hast auch deinen besten Freund im Stich gelassen, als er dich brauchte. Du bist weggelaufen, und jetzt tust du es wieder. Stefan, ich bin nicht tot. Ich habe es geschafft, genau wie du! Ich habe gekämpft, und jetzt bin ich hier. Direkt hinter deiner Tür. Musst du mich wirklich behandeln, als wäre ich ein Nichts? Hätte ich sterben sollen, damit du dich besser fühlst? Willst du, dass ich sterbe und..."

Die Tür öffnet sich und Stefan steht mit Tränen in den Augen vor mir. Er zieht mich ins Zimmer und umarmt mich.

,,Ich will nicht, dass du stirbst. Ich kann mit so einer Situation einfach nicht umgehen", sagt er und wird mit jedem Wort leiser. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen.

,,Das weiß ich. Du willst nicht, dass ich sterbe. Ich habe das vorhin nicht ernst gemeint. Ich wollte nur, dass du die Tür öffnest", antworte ich, streiche über seinen Rücken.

,,Du hast mit jedem einzelnen Wort recht. Ich laufe immer weg, wenn es brenzlig wird. Ich habe dich im Stich gelassen und nur an mich gedacht. Ich konnte dich nicht retten, weil ich Angst hatte, sie würden mich mitnehmen. Ich konnte es nicht. Es war so schrecklich, als ich dort war", sagt er und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

,,Ich weiß, Stefan. Ich weiß."

,,Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, Amelie", wiederholt er immer und immer wieder.

,,Danke, dass du die Tür geöffnet hast. Es ist besser, wenn wir zusammenhalten, auch wenn es schwierig wird. Du bist mein einziger Freund hier", erwidere ich.

Er ist still und weint weiter. Irgendwann setzen wir uns auf den Boden und starren uns an. Stefan sieht immer noch schrecklich aus.

,,Du siehst gut aus", spreche ich meinen Gedanken aus. Er beginnt zu lachen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn wieder lachen sehe. Ich lache auch. Es wird wieder still.

,,Ich habe deinen Namen erwähnt... Es tut mir leid. Ich wollte nur weg, mit allen Mitteln", stottert er. Er schaut auf seine verschlungenen Hände.

,,Ich-", ich halte inne. Kein einziges Wort will aus meinem Mund kommen. Also war er es. Er hat meinen Namen genannt, damit er verschont wird. Ich schlucke. Ich atme tief ein und aus. Ich muss mich beruhigen und klar denken. Ich muss ihn verstehen. Irgendwie...

 Aber warum ausgerechnet mein Name? Warum hat er keinen anderen Namen genannt?

,,Warum ich?", frage ich und beiße mir auf die Unterlippe.

Ich höre ihn laut ausatmen. Er streicht mit seinen Händen über seine Oberschänkel. Er ist nervös.

,,Weil du so anders bist."

Ich verstehe es immer noch nicht. Ich antworte ihm nicht. Er spricht weiter: ,,Dein Name kam mir sofort in den Sinn. Ich weiß nicht mal warum. Es kam einfach so über meine Lippen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht mal nachgedacht. Ich habe einfach deinen Namen ausgesprochen."

Er schlägt sich mit der flachen Hand auf den Kopf. Immer und immer wieder. Er versucht, sich selbst zu bestrafen.

,,Ich wollte nur, dass es aufhört.... Es tut mir so leid, was ich getan habe", stammelt er. Ich nicke leicht und versuche, seine Sätze zu verarbeiten.

Kann ich ihm verzeihen? Kann ich das? Ich schlucke den Kloß hinunter.

,,Stefan, mach dir keine Sorgen, okay? Ich kann dich verstehen. Aber bitte hör auf zu weinen und dich selbst zu schlagen. Es wird dir und mir nicht helfen, was du gerade tust. Also hör jetzt bitte auf", kommt es schwach von mir. Er hört auf sich zu schlagen.

,,Amelie, nein, das kannst du nicht so einfach akzeptieren", sagt er, aber ich unterbreche ihn schnell. Er sollte sich nicht so viele Sorgen machen.

,,Weine jetzt nicht. Wir sollten an die Zukunft denken. Es wird nicht leicht sein. Aber ich bin froh, dass ich dich noch habe", antworte ich ehrlich.

Es ist die Wahrheit. Ich bin froh, dass ich wenigstens einen Menschen habe, den ich einen Freund nennen kann. Auch wenn er mich enttäuscht hat, bin ich froh, dass ich ihn habe. Er hat mir oft Ratschläge gegeben und mich getröstet, wenn ich in Verzweiflung war. Ich weiß, dass es für ihn nicht leicht ist. Ich habe es selbst erlebt. Manchmal reagiert nur der Instinkt und nicht der Verstand. Das kann ich akzeptieren. Wenigstens dieses eine Mal...


Monster -Die schöne IllusionWhere stories live. Discover now