5. Eine Umarmung

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,,Guten Tag, mein Freund! Welche Ehre habe ich für diesen Besuch?", fragt mein Boss, der immer noch wie versteinert an der gleichen Stelle neben dem Tresen steht. Sein Lächeln verschwindet nicht einen einzigen Moment. Dieser Mann kennt das Geschäft und weiß genau, in welcher Position er sich befindet. Er beobachtet seinen Freund ganz genau.

Es dauert einen Moment, bis der Fremde aufsteht, seinen Platz verlässt und sich direkt vor meinen Chef stellt. Er lächelt nicht mehr.

,,Wir sollten besser unter vier Augen reden", sagt der Fremde in ruhigem Ton.

Die Situation ist ziemlich seltsam. Ich habe das Gefühl, dass hier etwas anderes vor sich geht, als mir bewusst ist. Vielleicht habe ich dieses Gefühl, weil mein Chef seinen Blick nicht ein einziges Mal von diesem Mann abwendet. Es herrscht Schweigen zwischen den beiden und langsam fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen.

Ich beiße mir auf die Zunge. Am liebsten würde ich etwas sagen, aber ich habe inzwischen gelernt, dass es manchmal besser ist, sich nicht einzumischen. Also tue ich genau das, was mir am schnellsten in den Sinn kommt. Ich spüle weiter und versuche, mich abzulenken.

Die Minuten vergehen und keiner der beiden möchte ins Büro laufen. Der Starr-Wettbewerb hat begonnen und keiner will zuerst aufgeben. Langsam wische ich über den schmutzigen Teller und entferne den hartnäckigen Fleck darauf.

Irgendwann scheint wohl mein Boss aufzugeben, da er plötzlich anfängt zu reden.

,,Natürlich! Dann nur zu ... Du weißt, wo mein Büro ist."

Ich verstehe nicht warum, aber plötzlich breitet sich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper aus. Kann es sein, dass seine Stimme noch tiefer geworden ist? Seit wann kann er so bedrohlich klingen? Ich schüttele leicht den Kopf. Natürlich, kann er bedrohlich sein. Er ist ein Monster! Ich schätze, damit habe ich meine eigene Frage beantwortet.

,,Ich verstehe", antwortet der Fremde und lächelt siegessicher, bevor er an meinem Chef vorbeigeht und ins Büro schlendert. Mein Boss starrt ihn immer noch an. Aber jetzt ändert sich etwas. Diesmal sieht er mich an. Offenbar hat er mein Starren bemerkt. Ich wende mich schnell ab tue so, als hätte ich nie in seine Richtung geschaut. Ich spüle weiter, auch wenn es derselbe Teller ist, den ich schon seit fünf Minuten spüle.

,,Es wäre gut, wenn du mir Bescheid sagen würdest, wenn ich das nächste Mal Besuch bekomme, Amelie", flüstert er dicht an mein Ohr. Sofort straffe ich meine Schultern, als ich seine Stimme höre. Verdammt, wie konnte er so schnell und unbemerkt hinter mich kommen? Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Oh nein... Wie bringe ich das wieder in Ordnung? Ich beiße mir auf die Zunge.

,,Wenn jemand zu mir möchte, will ich, dass du zu mir kommst und meinen Gast ankündigst. Verstanden?", fragt er und stellt sich nun an meine Seite. Ich nicke schnell, traue mich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich spüre seine Wärme dicht an meinem Körper. Elektrisierend. Ich schlucke. Mein Mund ist staubtrocken.

1 Sekunde. 10 Sekunden. 30 Sekunden...

Ich warte und warte, aber ich habe das Gefühl, dass er immer noch hinter mir steht. Ich traue mich nicht, etwas anderes zu tun, als auf den nassen Teller in meiner Hand zu starren. Vielleicht sind schon Minuten vergangen. Ich weiß es einfach nicht mehr.

Ich zähle meine Atemzüge, nur um mich abzulenken und mich zu beruhigen. Einmal einatmen, fünf Sekunden. Dann atme ich aus und wiederhole den Vorgang. Irgendwann höre ich eine vertraute Stimme neben mir.

,,Amelie, geht es dir nicht gut oder warum bist du so versteinert?", sagt Stefan besorgt und greift nach dem Teller in meiner Hand, um ihn ins Waschbecken zu stellen. Er holt einen Lappen und trocknet mir die Hände ab. Er sieht mich besorgt an und ich merke endlich, dass ich hier ganz alleine bin. Mein Boss ist schon lange weg.

,,Ich- ich ... Mir geht es glaube ich gut", antworte ich ehrlich und ein wenig verwirrt. Ich habe ihn die ganze Zeit über gespürt. Er stand hinter mir... Seine Atmung auf meiner Haut... Sein Geruch... Habe ich mir das alles eingebildet? Ist er gleich danach gegangen und ich habe vor lauter Angst nichts gemerkt?

,,Bist du dir sicher? Du siehst nicht gut aus? Liegt es an diesem Mann? Hat er etwas gemacht? Du weißt, dass sie dich nicht so einfach manipulieren dürfen, wenn du arbeitest. Das ist verboten", sagt er noch besorgter und streicht mit einer Hand ganz langsam über mein glattes, braunes, schulterlanges Haar.

Regel Nummer Sieben: Die Mitarbeiter dürfen während der Arbeitszeit nicht angegriffen oder manipuliert werden.

,,Unser Boss hat mir Angst eingejagt, mehr nicht. Irgendwie schüchtert er mich ein. Er war so nah", erwidere ich ehrlich. Ich kam mir neben ihm wie ein Winzling vor.

,,Ich habe euch beobachtet. Aber er ist doch direkt mit dem Kerl mitgegangen", sagt er. Ich schaue ihm in die Augen. Er lügt mich nicht an. Verdammt, was ich habe ich dann in Wirklichkeit erlebt?

,,Versuch ruhig zu atmen", redet Stefan beruhigend auf mich ein.

Langsam wird mir klar, dass ich furchtbare Angst vor meinem Boss habe. Von allen Monster in diesem Restaurant habe ich vor diesen Mann am meisten Angst. Warum? Weil er derjenige ist, der mich besitzt. Er setzt die Grenzen. Er sagt, was wir tun müssen. Und wir alle müssen gehorchen. Ich schlucke. Mir kommen fast die Tränen.

Hat er möglicherweise auch seinen Freund getötet? Ist es wahr, was der Fremde mir erzählt hat? Kann ich ihm trauen? Ich schlucke den Kloß in mein Hals herunter.

Ohne lange zu überlegen, umarme ich Stefan. Stefan stößt mich nicht weg, sondern hält mich fest. Er streichelt meinen Rücken und flüstert mir aufmunternde Worte zu. Ich vergreibe mein Gesicht an seine Brust und dann passiert wieder das Gleiche wie gestern. Ich lasse paar Tränen fallen. Warum bin ich nur so schwach?

,,Ich hoffe, wir kommen eines Tages hier raus", sage ich.

So muss es sich anfühlen, wenn man einen guten Freund hat. Ein Freund, der dir hilft und sich um dich kümmert. Ein Freund, der dich in die Arme nimmt und tröstet.


Monster -Die schöne IllusionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt