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Mein Kopf brummte, und zwar nicht vor Schmerzen wegen der Verletzung an meinem Kopf.

Es war einfach alles zu viel auf einmal. So chaotisch war mein Leben vor dem "Unfall"? Meine Mutter tod, mein Vater krank, ich arbeitete bereits und dann auch noch das Casting. Nur schwer konnte ich mir vorstellen, wie alles vorher war.
Und was war mit dem Prinzen, der behauptete, wir seien verlobt?

Meine Gedanken schweiften zu allem, was Prinz Mirolan mir erzählt hatte, über mich, aber auch über den Flugzeugabsturz. Es war alles viel zu viel, ich war einfach überfordert.
Tränen begannen aus meinen Augen zu rinnen und sich ihren Weg über meine Wangen zu bahnen.
Konnte ich diese ganze Amnesie nicht einfach mit den Tränen wegspülen?

Ich seufzte. Natürlich nicht, wie absurd. Irgendwann schlief ich ein, meinen Kopf auf dem schon recht nassen Kissen liegend.

Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich etwas besser, nicht nur psychisch, sondern auch körperlich. Mein Bein war zwar nach wie vor steif und taub, aber dafür war der stechende Schmerz von meiner Wunde am Kopf zu einem leichten Kopfweh geworden.

Kurz nachdem ich aufgewacht war, öffnete sich die Tür und der Prinz trat mit einem Tablett in den Händen ein. Ob er die ganze Zeit draußen gewartet hatte?

"Guten Morgen", sagte er fröhlich und stellte das Tablett auf meinem Nachttisch ab. Darauf befand sich eine dampfende Tasse Kakao, frischer Orangensaft, Pancakes, ein Croissant und ein belegtes Brötchen. Wow, wie viel das doch war.

"Morgen", entgegnete ich und hob den Blick von den leckeren Speisen, "Habt Ihr zum Essen bringen nicht eigentlich Diener?"

"Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass die alle mit anderen Dingen beschäftigt sind?", fragte der Prinz mit einem leichten Lächeln.

Ich setzte mich auf. "Nicht wirklich"

Mirolan seufzte theatralisch. "Na schön, es kam ein pinker Hai angeflogen und hat alle Diener im Schloß aufgefressen, deshalb muss ich jetzt das Essen an die Überlebenden verteilen. Warum geht das Hai-Warn-System bloß immer so schnell kaputt?", das letzte klang leise, wie eine vorwurfsvolle Frage an sich selbst.

Ich konnte nicht anders und brach in schallendes Gelächter aus. "Es tut mir Leid, das habe ich nicht mit bekommen, da zur selben Zeit ein silbernes Einhorn auf einem Regenbogen angeflogen kam und mir eine Flasche voll mit Gold schenkte", meinte ich, als ich mich wieder etwas beruhigte hatte.

Die Mundwinkel des Prinzen zuckten zunächst leicht, dann prustete auch er los und ich stimmte in sein Lachen mit ein.

"Und wo hast du die Flasche hingetan?", wollte Prinz Mirolan irgendwann, nachdem ich angefangen hatte zu frühstücken, wissen, wobei er sich aufmerksam im Raum umsah.

"Welche- achso", setzte ich an, "Versteckt, aber ich habe leider vergessen wo", sagte ich ironisch und sah mich gespielt nachdenklich im Raum um.
Wie gut es doch tat, mit ihm herum zu albern. Ich konnte einfach alles vergessen - wobei, das hatte ich ja sowieso schon. Aber bei jedem Wort, dass der Prinz mit mir sprach, bei jedem Mal, dass er mich ansah, bei jedem Mal, dass er lächelte, machte mein Herz merkwürdigerweise einen kleinen Sprung und etwas begann sich in meiner Magengegend zu bewegen.

Aber ich will doch gar nicht vergessen! Ich will mich erinnern!, rief ich mir zurück ins Gedächtniss.
"Wäre es möglich, mir die Bänder vom Casting an zu sehen, also nur meine Auftritte?", fragte ich Prinz Mirolan, während ich einen Schluck aus der Tasse mit Kakao trank, "Ich weiß, es wird mir vielleicht nicht unbedingt helfen, mich zu erinnern, aber ich will etwas sehen, von meinem Leben vor dem Flugzeugabsturz"

Mirolan überlegte kurz. "Na gut, aber du darfst dich nicht an jedes Wort von dir richten, einiges muss man einfach sagen, weil man im Fernsehn ist", sagte er dann.

Ich biss genüsslich in das Croissant. "Danke", sagte ich ehrlich.

Mirolan nickte. "Ich hole dich heute Nachmittag ab", sagte er und stand auf, "Krücken oder Rollstuhl?"
"Krücken"
"Dacht ich mir", er lächelte, "Draußen wartet noch jemand aus deiner Provinz, ein alter Freund von dir. Soll ich ihn hereinlassen?"

Sollte er? Was konnte es schon schaden? "Ja, wieso nicht", hörte ich mich selbst sagen.

Der Prinz nickte, öffnete die Tür und rief nach einem David. Ein Mann, etwas älter als ich, würde ich sagen, kam und verneigte sich vor dem Prinzen. Dann trat David ein, während Mirolan zögernd an der Tür stehen blieb.
Die Art, wie dieser David seine dunklen Haare nervös mit einer Hand zur Seite strich, kam mir bekannt vor. Genau wie er, wenn ich so darüber nach dachte. Ich starrte ihn aus zusammen gekniffenen Augen an.

"Ich kenne dich irgendwoher", murmelte ich.
David warf einen Blick zu Mirolan, der aussah, als hätte ihn gerade jemand geohrfeigt. Schnell schloß der Prinz die Tür hinter mir und David, dann hörte ich eilige Schritte fort gehen.

"Wir kommen aus der selben Provinz, hat der Prinz gesagt", erklärte ich.

"Ja", entgegnete der junge Mann, "Wir waren - oder sind eigentlich noch - gute Freunde. Wir haben uns in der Schule kennen gelernt. Kurz bevor du zum Casting kamst wurde ich als Schloßwache einberufen"

Ich nickte langsam. "Und wie war ich so? Also vom Charakter her?"

David setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett, schloß die Augen und lächelte. "Du warst anders, als alle Mädchen die ich kenne. Neugirig, mutig, wissbegierig und kämpferisch"
Er machte eine Pause. "Aber auch verdammt noch mal stur und besserwisserisch und ehrgeizig. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hattest, konnte dich nichts und niemand davon abhalten"

"Das klingt wirklich nach mir", murmelte ich, "Das letzte zumindest"

"Ich glaube nicht, dass, wie viel du auch vergessen hast, dein Charakter sich verändert hat. Soetwas geht einfach nicht", sagte David ruhig und ich war ihm dankbar dafür. Wirklich dankbar.
"Ich hoffe es", sagte ich, "Ich meine was ist, wenn ich jetzt ganz anders bin und wenn ich meine Erinnerung wieder bekomme, fest stelle, dass ich gar nicht so sein will, wie ich war?"

"Das wirst du nicht. Du warst vorher ein wunderbarer Mensch. Für das Volk warst du schon von Beginn des Castings an eine perfekte Königin", erklärte David mir.
Dann begann er mir von allem zu erzählen, was er aus meinem früheren Leben wusste. Irgendwann stand er jedoch vom Stuhl auf. "Tut mir Leid, aber ich muss jetzt los - du weißt ja, königliche Wache und so", schmunzelte er, "Wir sehen uns"
Er stand auf und ging zur Tür.

"David?", rief ich ihm nach, "Danke"
Er lächelte und nickte mir zu, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Eine Weile lag ich da, nicht wissend, was ich jetzt noch tun sollte. Irgendwann hielt ich es einfach nicht mehr aus im Bett zu liegen und stand schwerfällig auf. Mein linkes Bein spürte ich noch immer nicht, weshalb ich es hinter mir her ziehen musste, als ich den Stuhl vor mir her schiebend zum Fenster hüpfte. Ein komisches Bild, ich bin wirklich froh, dass in diesem Moment niemand ins Zimmer kam.
Am Fenster angekommen ließ ich mich auf den Stuhl fallen und zog mit beiden Händen das linke Bein hoch, um es auf der Fensterbank ab zu legen.

Mein Blick wanderte nach draußen. Die Sonne war etwas wolkenverhangen, brach jedoch an einigen Stellen hervor und ließ helle Lichtstrahlen auf den Wald und den Schloßgarten vor mir fallen. Draußen arbeitete ein Mann an einigen Beeten und pflanzte die verschiedensten Blumen ein, während die Wiese von dem schnell schmilzenden Schnee feucht glänzte. Auch der Wald begann zu Grünen, alles bereitete sich auf den nahenden Frühling vor.

Der Frühling erneuert alles, die Blätter, das Gras, die Blumen. Und sie wachsen, frisch und neu, ohne darüber nach zu denken, wie sie überhaupt hierher kamen, ob sie zuvor vielleicht schon ein Leben alls Polle hatten.
Vielleicht sollte ich das auch tun, einfach weiter machen, ohne allzu sehr an die Vergangenheit zu denken.
Ich meine, es spielt doch keine Rolle, wo her man kommt, wichtig ist doch eigentlich nur, wohin man geht, oder?

Naja, sich daran zu halten hört sich um einiges leichter an, als es ist.

The Selection ~ Yora's GeschichteWhere stories live. Discover now