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Verwirrt ließ ich mich von ihm in das Zimmer führen. Ja, es war tatsächlich das aus dem Traum.
Mirolan ging zu einem hölzernen, elganten Schrank mit drei übereinander liegenden Schubladen. Die oberste war verschlossen - und mit einem vierzifferigen Zahlenschloß gesichert!

"Als die Zofen deine Sachen aus dem Zimmer in das Krankenzimmer transportiert haben, fiel ihnen diese verschloßene Schublade auf", erzählte der Prinz.

Ich trat mit Hilfe der Krücke einen Schritt vor und betrachtete das Schloß. Ich lehnte mich vor. Dann begann ich mit zitternden Fingern die Ziffernblätter zu drehen. 1. 6. 9. Ich atmete tief ein. 3. Es klickte leise. Langsam lies ich die Luft aus meinen Lungen wieder entweichen.
Ich blickte zu Mirolan. Er war ein paar Schritte zurück getreten, es waren ja schließlich meine Sachen, die in der Schublade liegen mussten, nicht seine. Mirolan lächelte mir aufmunternt zu. Seid ich ihm gesagt habe, dass ich ihn liebe, schien er mit dem Grinsen nicht aufhören zu können.

Ich wandte mich und meine Gedanken wieder zu der Schublade und zog vorsichtig an den verzierten Metallgriffen. Die Schublade glitt sanft auf. Ich starrte hinein. Auf dem mit einer leichten Staubschicht bedeckten Boden lagen vier Gegenstände, die ich sofort wieder erkannte: Eine alte Pistole von schlichter Schönheit. Dann war da ein Korset, es war schmutzig und hatte ein paar Blutflecken an der Seite. Ein eleganter Degen, dessen Knauf die Form eines Wolfkopfes hatte, lag daneben. Der letzte Gegenstand war ein grüner Schuh mit halbhohen Absatz.

Wie in Trance ließ ich meine Krücke fallen und stützte mich mit einer Hand an der Komode ab, während die andere zu der Pistole griff. Meine Finger fuhren über den Lauf. Bilderfetzen drangen in mein Gehirn. Wie Blitze tauchten immer mehr von ihnen vor meinen Augen auf, immer mehr Erinnerungen.

Ich sah meinen Vater, wie er Barred und mir das Schießen beibrachte und mit uns und Jem auf die Jagd ging. Ich sah all meine Brüder, wie sie mich und Barred einmal zu unserem Geburtstag mit einer selbst gebackenen Torte überraschten. Ich sah David und Jakob, mein Cousian, wie wir zu dritt hinter Barred herrannten und versuchten ihn zu fangen.
Dann tauchte meine Mutter auf und ein Schauder lief über meinen Körper. Ich sah zu, wie sie mich zu den Leuten brachte, die mein Leben lange Zeit zerstörrt hatten. Ich sah sie, wie sie vor das Auto sprang, ihre Beerdigung, meinen Vater dem es immer schlechter ging. Tränen begannen mir über das Gesicht zu rinnen, so still, dass Mirolan, dem ich den Rücken zu gewandt hatte, nichts bemerkte.

Draußen, auf dem Balkon muss noch ein starkes Seil liegen, dachte ich bei mir, als meine Finger von der Pistole weg, zu dem Korset fuhren. Das Seil, dass mich zu meiner ersten Begegnung mit Mirolan verholfen hat.
Als ich das Korset berührte, hatte ich das Gefühl, als sei es noch warm, als hätte ich es gerade erst ausgezogen, nachdem ich es nur getragen hatte, weil Mirolan mir in einem Brief mitteilte, es würde mich vor Verletzungen schützen, nachdem ich von einem unserer Kampftrainigs kam, nachdem ich mir jedes mal schwor, besser zu werden, als er. Oder als käme ich gerade über das Seil zurück in mein Zimmer, nachdem ich in der einen Nacht mit David trainiert hatte. Und mir kam in den Sinn, dass ich das Korset das eine mal, bei dem ich es wirklich gebraucht hatte, nicht getragen hatte, nämlich bei dem Rebellenangriff. Ich erinnerte mich an die Jagd mit Mirolan und daran, wie ich zusammen brach. Ich sah das Krankenzimmer und erkannte Dr. Husband wieder.

Immer mehr Szenen strömten auf mich ein.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, während die Tränen noch immer weiter liefen, als ich den Schuh berührte. Ich sah den Tag wieder, an dem Mirolan mich zum Unterricht bei seinem Vater mitnahm und dieser mir von der Entkastinisierung erzählte. Ich sah unsere Alberein auf dem Rückweg zu meinem Zimmer.

The Selection ~ Yora's GeschichteWhere stories live. Discover now