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„Blythe! Heh, Blythe hier ist Post für dich!", rief Jasper wie immer viel zu laut über die Flure des Wohnheims.

Ich war noch nicht lange in Toronto und auch mein Studium hatte erst vor einigen Wochen begonnen, doch Jasper und ich hatten uns auf Anhieb gut verstanden. Unsere Betten lagen im selben Schlafsaal des Studentenwohnheims und auch er studierte wie ich Medizin, so hatten wir uns also kennengelernt. Mittlerweile war ich auch bei ihm angelangt und versuchte ihm nun meinen Brief abzunehmen.

Doch er hatte anscheinend andere Absichten: „Nicht so stürmisch, nicht so stürmisch. Von wem ist der denn, dass du es so eilig hast?" Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, während ich immer noch versuchte an den Brief zu kommen, denn auch ich wüsste gerne wer mir schrieb.

„Ich weiß es nicht Jasper, aber wenn du ihn mir geben würdest, wäre das sicherlich hilfreich!" „Nun gut, ich will mal nicht so seien", lautete seine gnädige Antwort und er hielt mir den Umschlag hin.

Als ich ihn entgegen nahm und einen genaueren Blick auf die Adresse warf, hätte ich mich dafür Ohrfeigen können, dass ich nicht gleich gewusst hatte von wem der Brief war. Nämlich von Anne. Ich hatte ihr gleich nach meiner Ankunft geschrieben und das schien nun meine schon so lang ersehnte Antwort darauf zu sein. Ohne weiter auf Jasper zu achten eilte ich schon den Korridor entlang in Richtung der Treppen - ich wollte nicht, dass Jasper mir mit seinen neugierigen Augen beim Lesen über die Schulter schaute und die meiste Privatsphäre würde ich wohl im Schlafsaal finden. Es war Samstag Vormittag, da waren die meisten Jungs im Gemeinschaftsraum oder draußen..

„He Gilbert, wo willst du ihn?" Aus Jaspers Sicht eine durchaus berechtigte Frage. „In den Schlafsaal, nichts für Ungut, aber ich will den Brief dort alleine lesen." „Kein Problem. Aber warte, wir sind doch mit den anderen verabredet!" Ach stimmt ja, das hatte ich ganz vergessen. "Ich komme nach, okay? Wartet nicht auf mich!"

,Die anderen' damit waren einige der anderen Jungs gemeint, die ebenfalls in diesem Wohnheim lebten. Darunter Nicki Barner, Charlie Thomsen und John Lapierre, einige weitere und natürlich Jasper. Mittlerweile hatte sich aus uns eine fast eingeschworene Gruppe entwickelt, die mich stark an meine alte Klasse in Avonlea erinnerte.

So machte ich mich also von den hauseigenen Briefkästen in Richtung des Schlafsaales auf. Kaum war ich dort angelangt, setzte ich mich auf mein Bett (die untere Hälfte eines Doppelbetts, auf dessen oberer Seite Jasper schlief) und schaute noch einmal auf die feinsäuberlich aufgeschriebene Adresse am unteren Rand des Umschlags. Dann öffnete ich vorsichtig den Brief, sehr darauf bedacht dabei nicht versehentlich etwas zu zerreißen, und faltete das Papier auseinander. Es war eng beschrieben. Ich begann die ersten Zeilen zu lesen.

Schnell musste ich schmunzeln, denn auf dem von Anne beschriebenen Blatt sah man, wie sie die ersten Zeilen ordentlich und mit großer Sorgfalt geschrieben hatte, doch ungefähr ab der Hälfte des Blattes war sie wieder in ihre gewohnte stürmische Schrift verfallen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie Anne an ihrem Schreibtisch saß und mir schrieb. Doch bei den ganzen Gedanken an sie zog sich mein Herz vor Sehnsucht schmerzlich zusammen. Schon jetzt konnte ich unser nächstes Treffen kaum erwarten, aber ich würde wohl oder übel noch warten müssen.

Sie erzählte von zuhause; ihr ging es gut und sie schien sich mit ihren Fragen gar nicht mehr einzukriegen, aber sie schrieb auch, dass sie mich vermisste. Noch immer konnte ich das alles nicht ganz begreifen. In den letzten Wochen war so vieles passiert. Aber am wichtigsten: Anne und ich waren endlich ehrlich zueinander. Und schöner hätte das Ergebnis davon nicht seien können.

Irgendwann hatte ich den Brief sooft gelesen, dass eine kleine Ewigkeit an Zeit vergangen war und ich mich auf den Weg zu den Anderen machen musste. Schnell faltete ich den Brief wieder zusammen und legte ihn behutsam unter mein Kopfkissen, wo er fürs Erste sicher liegen würde und beschloss, dass ich Anne am Abend eine Antwort schreiben würde. Dann machte ich mich auf in einen nahegelegenen Park in dem ich die Jungen vermutete. Der Verdacht bewahrheitete sich, als ich sie auf einer der Wiesen versammelt sah. Ihre lauten Stimmen hörte man schon aus weiter Entfernung. Schließlich schien ich in ihr Sichtfeld zu rücken.

"Ah Gilbert, da bist du ja! Wo warst du?", fragte Nicki. Er war ziemlich freundlich und immer für eine nette Unterhaltung zu haben. Ehe ich ihm jedoch auf seine Frage antworten konnte, wurde ich schon von Jasper unterbrochen: "Das kann ich euch auch sagen, der Geheimniskrämer hat einen mysteriösen Brief bekommen und war sofort weg!"

"Ein Brief von dem wir nichts wissen dürfen, von einem mysteriösen Absender, was hast du vor Blythe?", fragte nun auch Charlie mit einem gespielt alarmierten Geschichtsausdruck.

"Hilfe", rief ich, "wie ihr übertreibt! Der Brief war von Anne, da müsst ihr nicht unbedingt alle mitlesen!"

"Wer ist denn Anne?", fragte Charlie und ein schelmisches Grinsen zog sich über sein Gesicht, gemischt mit Neugier. Ich merkte, dass auch die anderen mich neugierig beäugten. Plötzlich war ich etwas verlegen. "Anne ist, also sie ist.. eine, nein ... sie ist meine Freundin. Sie studiert in Charlottetown, deshalb ein Brief." Anne nun wirklich als meine Freundin zu bezeichnen ließ mein Herz direkt höher schlagen und erinnerte mich gleichzeitig an unseren letzten Kuss, was in mir ein unbekanntes Kribbeln auslöste.

"Schau an Blythe, das traut man dir bei deinem dämlichen Grinsen ja gar nicht zu. Nein, freut mich für dich! Wie lange ist das schon mit euch?", fragte Charlie.

Jasper schaute mich wissend an; zwar kannte er nicht die ganze Geschichte, aber ich hatte wohl hin und wieder angefangen von Anne zu erzählen. "Das ist eine längere Geschichte und auch etwas kompliziert, aber sie ist wirklich", ich versuchte ein Wort zu finden, das Anne einigermaßen gerecht wurde, "einzigartig."

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now