2

362 9 1
                                    

Glücklich lief ich durch den Garten des Wohnheims. Da waren tausend Farben, die mich in ihrer Schönheit anstrahlten. Tulpen, Rosen, Lilien und so viele andere, dass es mir unmöglich war sie alle zu benennen. Aber sie leuchteten und blühten und rochen gewaltig schön. Es war Frühling. Seitdem ich das Buch meiner leiblichen Eltern erhalten hatte, hatte ich es oft gelesen und so eine neue Leidenschaft für die Blumen entwickelt. Diana war direkt an meiner Seite gewesen und so hatten wir von der Leiterin des Mädchenwohnheims die Erlaubnis erhalten im Garten einige Bete anzulegen und Blumen anzupflanzen - auf unsere eigene Verwantwortung wie sie betonte.

Mittlerweile blühte der halbe Garten, denn schon kurz nachdem wir begonnen hatten, hatten sich die anderen Mädchen unserer angeschlossen und wir hatten alle gemeinsam gegraben, gesät und gegossen. Zum Glück hatte die Leiterin uns in diesen Momenten nicht gesehen, denn sie wäre über unsere "Unschicklichkeit" entsetzt gewesen.

Doch selbst sie erfreute sich nun am farbprächtigen Anblick.

Diana, Ruby, Tillie, ich und einige andere Mädchen des Wohnheims hatten sich auf einer Decke im weichen Gras niedergelassen. Während die anderen Mädchen vergnügt plauderten, versuchte ich mich an einem Gedicht über die wunderbare Umgebung. Jedoch schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Denn ich sah in der Ferne den Gartenzaun und den Vorplatz, der mich an den Abschied von Gilbert errinnerte, was ein bittersüßes Gefühl in meinem Herzen weckte. Wir waren zwar noch nicht lange getrennt, aber ich sehnte mich nach einem Wiedersehen. Andererseits fühlte ich mich etwas wie in einer dramatischen Liebesgeschichte in der die zwei Hauptfiguren getrennt waren, obwohl es ihr Schicksal war zusammen zu sein, denn ihre Seelen waren mit dem Band der Liebe verbunden. Wie romantisch so etwas doch klang!

Trotzdem glaubte ich, dass ich glücklicher über eine Antwort von Gilbert wäre.. Ob er wohl an mich dachte?

"Anne!? Anne!!", Ruby sah mich auffordernd an. Es schien, als hätte sie das nicht das erste Mal gesagt.

"Hm?", fragte ich - noch immer nicht ganz anwesend. "Wo bist du bloß immer mit deinen Gedanken!", rief sie tadelnd, " Ich wollte wissen, ob du schon weißt, wann du im Sommer nach Avonlea fahren wirst?"

"Das hat doch noch Zeit... Jedoch vermute ich, dass ich im Juni oder Juli fahren werde. Ich habe beim letzten Mal noch nicht mit Marilla und Matthew darüber gesprochen. Wann wollt fahren? Lasst uns doch alle zusammen oder denkt ihr anders?"

"Oh das wäre schön", rief Diana sofort. Bis eben war sie noch in eine schemenhafte Zeichnung unseres Gartens, wie wir ihn nannten, vertieft gewesen, doch ihre aufmerksame Art ließ gar nichts anderes zu.

Ich lächelte sie an. Das letzte Mal hatte ich Marilla und Matthew beim Osterfest besucht. Leider war Jerry genau an diesen Tagen nicht da gewesen; er hatte seine Familie ebenfalls  besucht. Aber ich freute mich sehr für ihn und war froh, dass Matthew ihm über die Feiertage freigegeben hatte - auch wenn ich nichts anderes von ihm erwartet hatte.

Aber in den Sommermonaten würde ich Jerry, Bash und all die anderen einmal wiedersehen, denn in diesen war ich für den Juli und August vom Unterricht entlassen - es war wie Schulferien.

"Wir sollten unbedingt zusammen fahren", rief nun auch Tillie aus. "Ohne euch will ich gar nicht."

"Unbedingt!", rief Ruby begeistert, "Und dann gehen wir zusammen aufs Sommerfest!"

Nun begannen die anderen Mädchen eifrig Pläne zu schmieden und sich den Sommer in den herlichsten Farben auszumalen... Auch ich musste an den Sommer denken und freute mich darauf, doch ausnahmsweise hielt ich mich in dieser Unterhaltung bedeckt, denn meine Gedanken wanderten wieder zu Gilbert - er ließ mich nicht mehr los. Vielleicht würde ich beim nächsten Sommerfest in Avonlea das Mädchen an seiner Seite sein. Die Vorstellung war albern - doch mich durchfuhr ein freudiges Kribbeln.

Am Tor schob sich nun der Postbote in mein Sichtfeld. Es war Sonnatg. Wir liebten es, wenn wir den Postboten hier im Garten abfangen konnten, bevor er den hauseigenen Briefkasten erreicht hatte, denn wenn die Hausleiterin diesen lehrte, bestand die Gefahr, dass sie unsere Briefe vor uns las, um "Unsittliches" zu vermeiden, wie sie meinte. Ja, unsere Leiterin war sehr streng, doch wir schätzten sie trotzdessen.

Kleine Freiheiten wie diese erlaubten wir uns trotzdem. George, der Postbote, grüßte uns fröhlich und verteilte mit vergnügtem Blick die Briefe. Tillie erhielt einen von ihren Eltern und Nathalie, eines von den Mädchen, die ich hier neu kennengelernt hatte, ebenso.

Auch ich bekam einen. Entgegen meiner Erwartungen war er nicht von Marilla, sondern von Gilbert. Fast hätte ich es nicht bemerkt, doch die andere Schriftart der Adresse stieß mir ins Auge. Ungewollt entfuhr mir ein kleiner Ausruf der Freude. Die anderen Mädchen sahen mich irritiert an, doch mich durchströmte pure Aufregung. Bei dem Gedanken kam ich mir kindisch vor, aber es war nicht zu ändern.. Und so drückte ich den Umschlag freudig an meine Brust.

Die anderen sahen mich noch immer fragend an.

"Ich freue mich bloß über den Brief...", brachte ich schließlich leicht stockend hervor. Erstaunlicherweise schienen sie sich damit zufrieden zugeben - war ich wirklich so seltsam, dass sie sich über so etwas gar nicht wunderten? Sollte es mir recht sein, im Augenblick kam es mir nur gelegen. "Ich gehe kurz aufs Zimmer; bin gleich wieder zurück." Ungeschickt sprach ich diese Worte und ich sah aus dem Augenwinkel Dianas zweifelnden Blick. Doch ehe sie die Möglichkeit hatte irgendetwas zu tuen, war ich bereits im Gebäude verschwunden. Dort setzte ich mich auf eines der schmalen Sofas des unteren Korridors und schaute mir den Brief an.

Mit schnellen Blicken las ich das Geschriebene, während meine Lippen unbewusst ein Lächeln formten. Bevor ich dazu kam ihn ein zweites Mal zu lesen, erschien Diana vor mir. "Du glaubst nicht wirklich, dass ich dir glaube, dass dies bloß ein unbedeutender Brief ist, oder?"

Ertappt schaute ich sie an. Doch mein unbändiges Lächeln besiegte die Grimasse und Diana sah aus, als hätte ich sie damit bestätigt. Sie ließ sich neben mir nieder: "Was schreibt er?"

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now