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Zwar hatte ich niemals an Gilberts Ruf als „Romantiker" gezweifelt, aber nach dem heutigen Abend war ich endgültig überzeugt.
Alleine, wie er neben mir auf der Bank saß; zwischendurch seinen Arm um mich legte und von seinen Blicken wollte ich gar nicht erst beginnen...
Und doch schien er sich zu verändern. Es war mir erst gar nicht aufgefallen, ich war mit der Begrüßung von Jerry und James beschäftigt gewesen. Es freute mich ernsthaft, dass sie kamen. Gerade James erwies sich als großartiger Unterhalter. Vielleicht war er eigentlich ein großer Schauspieler, der vor der Bekanntheit fliehen wollte und sein Talent nutzte, um sich bei uns Unwissenden in Avonlea als harmloser Landstreicher auszugeben. Denn auch was die vielen Geschichten anging, die er mir erzählte, bezweifelte ich oft, wie echt diese waren.
Ich verwarf diese Gedanken; wahrscheinlich war es seine Lebenslust, die ihn so ansteckend machte. Jedenfalls erzählte er der ganzen Runde laut Geschichten, die zuerst haarsträubend waren und dann immer amüsanter wurden. Und ich ließ mich begeistert mitreißen, erweiterte seine Geschichten und auch die anderen schienen großen Spaß zu haben.
Gerade holte James von Neuem aus: „... und da rief ich über die Flüsse und Berge hinweg, dass es nur so schallte und mein Echo noch Orte weiter erklang, ‚Komm, komm und kämpfe mit mir du Ungetüm, das du-"

„... zu Feige warst mir unter die Augen zu treten und stell dich deinem erbarmungslosen Schicksal!", führte ich seine Geschichte mit gräulicher Stimme fort, während ich aufsprang und heroisch den Arm in die Luft streckte. Dann brachen wir alle in Gelächter aus und James fragte mich mit glänzendem Blick, woher ich das bloß wüsste. Immer noch lachend ließ ich mich zurück auf meinen Platz neben Gilbert sinken, und erst da bemerkte ich, dass er viel stiller geworden war. Er kaute fast teilnahmslos auf seiner Lippe herum und ich fragte mich angestrengt weshalb. Leise, um die Aufmerksamkeit der anderen nicht auf uns zu ziehen, fragte ich ihn: „Ist alles in Ordnung?"

„Hm", sein Blick traf meinen und ich konnte nicht ganz identifizieren welche Gefühle sich darin mischten.
„Sicher", sagte er dann, „ich war gerade kurz abgelenkt. Alles ist gut. Das Feuer ist eindrucksvoll nicht?"
Ich stimmte ihm zu. Wenn ich mich lange genug darauf  konzentrierte, gerieten auch meine Gedanken schnell in andere Welten und meine Augen verfolgten genau das unaufhörlich brennende und lodernde Feuer.

Doch lange konnten wir nicht in unserer gemeinsamen Stille verweilen, denn unsere Freunde hatten anderes vor. Mittlerweile waren sie übermütig aufgesprungen und forderten auch uns zum Tanzen auf. Begeistert zog ich Gilbert hoch und diesmal schien auch er wieder wach und vergnügt. Er wirbelte mich herum und ehe ich mich versah, landete ich in seinen Armen. Auch die anderen tanzten wild umher. Es war nicht so gesittet und geordnet wie beim Scheunenfest - machte aber umso mehr Spaß, was ich zuvor kaum für möglich gehalten hätte. Trotzdem wechselten wir immer wieder die Tanzpartner. Für die Musik sorgten wir selbst durch munteres Singen und einige saßen noch immer an der Seite, um tapfer und zu meiner Überraschung außerordentlich gut zu Pfeifen. Peter Farmer hatte sogar eine Ziehharmonika mitgebracht, die er mehr schlecht als recht, aber wirksam, zum Einsatz brachte. Gerade tanzte ich mit Moody, der aber nur Augen für eine andere zu haben schien - Diana wie ich, nach anfänglichem Unglauben, geschockt feststellte. Jedoch bemerkte ich, dass auch ihr Blick, vereinzelt und überaus rasch, zu Moody huschte. Und so setzte ich alles daran mit Moody Richtung Diana zu tanzen und an der richtigen Stelle mit ihr den Tanzpartner zu tauschen. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie Diana leicht errötete. Eine äußerst interessant Entwicklung, wie ich fand, die es weiter zu verfolgen galt.

Dann erst bemerkte ich meinen neusten Partner: James. „Und Anne, schon außer Atem?", fragte er. „Unmöglich!", rief ich freudig. Während wir tanzten, glitt mein Blick wie sooft zu Gilbert. Er tanzte gerade mit Jane und zu meinem Erstaunen schaute er im selben Moment zu mir. Dachte ich. Dann jedoch fiel mir auf, dass er auf Waters schaute und nachdem ich zum ihm auch blickte, sah ich, dass auch auf Gilbert guckte. Jener sah allerdings nicht begeistert aus. Was war bloß geschehen? Dann wendete sich James wieder mir zu und zog mich enger an sich. Was sollte das nun? Ich drückte mich von ihm weg, was nur bedingt klappte, da sein Griff durchaus fest war. Wieder glitt mein Blick zu Gilbert. Noch nie hatte ich ihn so angespannt gesehen. Wenn Blicke töten könnten, dann, so bemerkte ich es schließlich, wäre James Waters nicht mehr unter uns gewesen. Ich kam mir dämlich vor, Gilbert nicht verstanden zu haben. Er schien eifersüchtig. Was ich allerdings davon hielt - ich war mir nicht sicher.

Jedoch bemerkte ich plötzlich auch James Nähe, die mir auf einmal zu nah vorkam und ich entschuldigte mich. Dann setzte ich mich auf die abgelegenste Bank, um erst einmal zu atmen. Lange hatte ich nicht Zeit, denn plötzlich tauchte er abermals vor mir auf. „Geht es dir gut Anne?", fragte er besorgt und der leichte Anflug von Bedrängnis, den ich eben verspürt hatte, war verflogen. Was hatte ich da bloß imaginiert? Da jedoch tauchte Gilbert in seinem Rücken auf und kam direkt an meine Seite. „Alles gut Anne?", fragte auch er und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Jaja.", sagte ich, „Ich bin nur doch etwas außer Atem." Während ich das sagte schaute ich kurz belustigt hoch zu James, denn er hatte doch recht behalten. Gilbert schien von der Präsenz Waters nicht sehr begeistert.
„Lässt du uns kurz alleine?", fragte er an ihn gewandt und klang dabei fast unhöflich.
„Selbstverständlich.", entgegnete dieser mit einem kaum hörbaren, aber doch vorhandenen bissigen Unterton.

Ich beschloss in diesem Moment nicht länger darüber nachzudenken und lehnte meinen Kopf an Gilberts Schulter, der sich mittlerweile neben mir auf die morsche Holzbank gesetzt hatte. Wir saßen länger so; schweigend, Hand und Hand und die anderen beobachtend. Gilbert schien sich zu beruhigen. War er ernsthaft eifersüchtig gewesen? Ich sah dazu beim besten Willen keinen Grund. Oder misstraute er mir etwa?

Um mögliche Zweifel meiner Zuneigung zu ihm aus der Welt zu schaffen, drehte ich mich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Schläfe. Gilbert Blythe hielt seine Hand an meinem Rücken. Währenddessen glitt mein Blick kurz über seine Schulter in die Ferne und da sah ich James, der auf uns beide schaute. Er sah plötzlich sehr traurig, wenn nicht sogar wehmütig aus. Als hätte er in diesem Moment etwas verloren.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now