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Seit anderthalb Tagen hatte ich Gilbert Blythe nun nicht mehr gesehen. Noch brodelte in mir meine Wut und gleichzeitig mischte sich tiefe Trauer darunter. Jedoch blieb mir kaum Zeit daran zu denken, denn Matthews Zustand hatte sich in den letzten Tagen beinah dramatisch verschlechtert. Mir war Angst und Bange. Und ich versuchte alles ihm seine Lage zu erleichtern, ihn von dieser grässlichen und schamlosen Krankheit zu befreien.

Wäre diese Krankheit eine Person, es wäre eine entsetzlich abscheuliche Person. Die ungepflegt und unfreundlich in Fremde Häuser und Gespräche platzt und einen mit ihrer gesamten Furchtbarkeit ganz benommen macht. Eine wulstige und unendlich viel Raum einnehmende Person, die sich jedem auf den Hals drängte.

Ich hatte schon mehrmals an den Blattern erkrankte versorgt, und wenn ich ehrlich zu mir war, dann sah Matthew wirklich unendlich schlecht aus. Doch ich selbst hielt es nicht aus, mir derartige Gedanken zu machen und so arbeitete und betete ich bloß umso mehr, denn dann musste sich doch einfach alles bessern!

So also blieb mir nur in der Nacht, wenn ich eigentlich todmüde in meinem schmalen Bett lag, Zeit an Gilbert zu denken. Dann hielten mich Verzweiflung und Angst noch fester in ihren erbarmungslosen Fesseln. Denn was, wenn ich Matthew tatsächlich verlor? Ich wusste, dass würde ich nicht verkraften. Und was, wenn auch Gilbert nichts mehr von mir hören wollte? Zwar sah ich mich eigentlich im Recht, doch hatte er sich bis jetzt auch noch nicht gemeldet. Hatte ich ihn verletzt?  War da etwas zwischen James Waters und mir gewesen? Ich konnte reinen Herzens nein darauf antworten, aber James hatte mir schwarz auf weiß geschrieben, dass er mich gemocht hatte. Gilbert hatte mit seiner Ahnung also richtig gelegen. Und auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, ich befürchtete, dass ich in seiner Situation ähnlich gehandelt hätte.

Für all diese nervenzerrenden Grübeleien blieb mir jedoch kaum Zeit, denn ich war den ganzen Tag lang beschäftigt. Ich schrubbte in der Küche, und kochte Suppe für Matthew, wusch und wechselte Verbände und half auch bei der Farmarbeit. Jetzt wo und James als Ersatz für Matthew fehlte, fiel noch mehr Arbeit auf mich ab. Jerry konnte unmöglich alles alleine machen. Wir schafften ja schon zu zweit gerade einmal das Nötigste.

Ich wollte mich nicht beklagen, aber ich bereute es ein bisschen, meine freien Wochen nicht schöner verbringen zu können. Mir blieb keine Zeit zum Schreiben oder Träumen. Seit Tagen hatte ich Green Gables nicht verlassen und bloß ein einziges Mal mit Diana gesprochen. Alles was ich tat, war arbeiten und das begleitet von schrecklicher Angst um Matthew.

Heute Morgen war endlich Dr. Martin bei uns angelangt. Er verweilte allerdings nicht lange im Zimmer des Kranken. Bereits nach wenigen Minuten teilte er uns mit ernster Miene mit, dass er bedauerlicherweise keine Hoffnung für Matthew sehe.

Ich konnte nicht glauben, was er da sprach. Das konnte, nein, durfte nicht wahr sein! Wie sollte ich je ohne ihn leben können? Wie sollte Marilla ohne ihn sein? Ich wollte schreien und weinen, irgendwas tuen, doch mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nichts würde ändern können.
Ich sackte zusammen und brach beinah wirklich in Tränen aus.
Doch dann schaffte ich es mich auf wundersame Weise zu fassen. Ich durfte mich nun nicht dieser Resignation hingeben, allein schon Marilla gegenüber nicht. Welch Schmerz musste die Nachricht wohl für sie bedeuten. Es war meine Pflicht ihr Mut zu machen und beiseite zu stehen.

....

In der Nacht hielten wir Krankenwache. Wir saßen stillschweigend an Matthews Bett. Der dunkle Raum war nur von einer schwachen Kerze erleuchtet. Draußen stürmte es. Ab und zu knackten die alten Fenster, was sich gespenstisch anfühlte, denn ansonsten war es geradezu totenstill. Ich glaube, das war die grausamste Nacht, die mir das Schicksal auferlegt hatte.

Sein Fieber schien ins Unermessliche zu steigen und er wälzte sich nur noch schwach und selten. Still betete ich immer wieder und flehte Gott an, ihn zu verschonen. Wie gerne hätte ich Matthews Hand gehalten und mich der Illusion hingegeben ihm dadurch helfen zu können. Wie gerne hätte ich ihn von seinen Qualen  befreit. Wie sehr sehnte ich mich nach einer tröstenden Umarmung von gerade ihm.
Wenn wenigstens Gilbert da gewesen wäre.

Die Nacht dauerte lange und als Matthew schließlich einschlief, waren Marilla und ich uns beide sicher, dass es das letzte Mal gewesen war. Ein entsetzlicher Schmerz entbrannte in meinem Inneren.

....

Am nächsten Morgen war ich es, die die Kammer zu erst betrat. Spät in der gestrichen Nacht, war es für jeglichen schlauen Gedanken zu spät, Trauer und Müdigkeit zu groß gewesen. Marilla und ich hatten uns einfach zu Bett gelegt.
Ich betrat den Raum nur, weil ich mich vor allen anderen im Stillen von Matthew, den ich unendlich liebte und der für mich ein Vater war, verabschieden wollte. Ich ließ mich auf dem niedrigen Schemel neben seinem Bett nieder und sprach flüsternd meine letzten Worte zu ihm; da nahm ich eine Bewegung unter dem Tuch war, das über seinem Gesicht lag. Irritiert schob ich es nach kurzem überlegen sanft zurück.

In jenem Moment brachen tausend wunderbare Gefühle über mich hinein. Ein Wunder hatte sich ereignet, denn Matthew atmete. Er atmete! Seine Brust hob und senkte sich leicht. Und seine Haut war nicht totenblass sonder lediglich etwas heller. Sein Herz schlug - er lebte!
Tränen sammelten sich in meinen Augen, und seit langer Zeit waren es die der Freude. Ergriffen starrte ich ihn an.

....

Dr. Martin nannte es ein tatsächliches Wunder. Matthews Fieber war über Nacht abgeklungen und bald Vergangenheit. Seine Pusteln verheilten nach wenigen Wochen. Erklärlich war es nicht, aber das war auch nicht von Nöten.

Schöner als Matthew beim Gesundwerden zusehen zu können, war nur die Erinnerung an den Moment, in dem ich Marilla von der frohen Botschaft erzählt hatte. Noch nie, hatten sich so viele Gefühle auf ihrem Gesicht abgezeichnet.

....

Nun aber befand ich mich noch am Morgen jenes gesegneten Tages, den ich nicht nur aufgrund Matthews Sieg im Kampf gegen den Tod zeitlebens nicht vergessen würde. Es ereignete sich nämlich noch ein weiterer sehr glücklicher Umstand an diesem Tag...

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now