10

215 9 0
                                    

Die nächsten Tage verbrachte ich mit Delphine und Bash, Anne oder alten Freunden.
Heute aber war der Tag gekommen, an dem fast unser ganzer alter Jahrgang sich zu einer gemeinsamen Wanderung durch die nahegelegene Umgebung verabredet hatte. Sogar Mrs. Stacy wollte für eine Weile dazu stoßen. Anne freute sich darüber besonders, denn in den letzten Tagen hatten wir unsere alte Lehrerin kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Lediglich Bash, der sich in den letzten Wochen ein paar Mal mit ihr getroffen hatte, konnte von ihr erzählen. Anscheinend hatte sie sich auf eine kurze Reise nach Georgetown begeben und war nun wieder zurück.

Wir trafen uns am Standort unserer alten Schule, die mittlerweile wieder aufgebaut worden war. Da waren Diana, Ruby, Tillie, Jane, Josie, Prissy, Charlie, Moody, Billy und natürlich Anne. Uns alle auf einmal wiederzusehen erfüllte die meisten mit leichter Melancholie und doch waren wir froh - wir sahen uns schließlich alle wieder.
Nun tauchte auch Mrs. Stacy in unserem Rücken auf, tatkräftig und lebensfroh wie gewohnt. „Dass ich euch nochmal alle wiedersehe!", rief sie fröhlich und wir machten uns auf den Weg.

Zu Beginn erzählte mir Billy Andrews prahlerisch von seinen Fähigkeiten und seiner glänzenden Zukunft, was ich nur schwer ertragen konnte. Ich überstand das Gespräch, indem ich auf Anne achtete, die sich angeregt mit Mrs. Stacy unterhielt. Irgendwann schaffte ich es dann auch Billy loszuwerden und gesellte mich neben Anne. „Ah Gilbert, wie schön auch dich wiederzusehen! Anne, ich bin froh von deinen revolutionären Ideen zur Überwindung des Patriarchats gehört zu haben. Ich bin sicher du wirst einmal eine, von konservativen Eltern gefürchtete, großartige Lehrerin werden.", sagte sie mit schelmischem Blick und wandte sich dann an mich, während Anne weiter mit uns ging.
„Und wie studiert es sich in Toronto Gilbert?", fragte sie. Ich erzählte ihr ein bisschen von Professor Hawkins und den neusten Entwicklungen, dabei verschränkte ich, ohne es es wirklich zu bemerken, meine Hand mit Annes. Meine ehemalige Lehrerin hörte mir interessiert zu. Kurz viel ihr Blick auf unsere Hände und ihr Mund deutete ein triumphierendes und gleichzeitig mütterlich liebevolles Lächeln an - wir hatten ihren Segen.

....

Später wurde die Stimmung immer ausgelassener; einige waren bereits nach Hause gegangen und wir restlichen hatten uns im Gras niedergelassen und ließen uns von der nachmittäglichen Sonne bestrahlen. Gerade erzählte ich eine alte Geschichte aus Trinidad als ich eine mir unbekannte Gestalt in der Ferne erblickte.

„Was ist Blythe, warum hörst du auf?", fragte Charlie Sloane. „Seht ihr da hinten?", fragte ich stattdessen und deutete in die Ferne. Die Gestalt schien auf uns zu zukommen. „Ja, sieht aus wie ein Junge. Vielleicht aus Charlottetown?", meinte Diana. „Zu Fuß?", fragte Tillie zweifelnd.

Mit der Zeit kam die Gestalt immer näher, bis wir sie richtig erkennen konnten. Es handelte sich um einen Jungen, er schlenderte, vergnügt pfeifend, den Landweg entlang. Er war von der Sonne gebräunt und schien in unserem Alter. Im Augenwinkel sah ich, wie Jane Ruby verstohlen in die Seite stieß, doch das ignorierte ich vorerst. Als der Junge so nah war, dass er vor uns zum Stehen kam, hob er freundlich zur Begrüßung seine Mütze.

„Hallo! Gut dass ich auf euch treffe, ihr könnt mir sicher helfen, ich will nach 'Avonlea'." , sagte er freundlich und mit einem etwas fremd klingenden Akzent. Dabei tat er so als würden wir uns bereits ewig kennen.
Keiner antwortete - aus irgendeinem Grund starrten wir ihn an, als hätten wir noch nie jemanden von außerhalb zu Gesicht bekommen. Vielleicht lag es an seiner ungewohnten Unbefangenheit...
Irritiert schob er den Kopf zur Seite - da fand ich meine Sprache wieder.
„Hey, ich bin Gilbert Blythe. Wenn du nach Avonlea willst, bist du richtig hier. Was oder wen suchst du?", fragte ich. Der Junge machte mich neugierig.

„Ich bin James Waters, freut mich eure Bekanntschaft zu machen! Ich suche nichts Bestimmtes, nur ein Zuhause für kurze Zeit und ein Bett für die Nacht."

„Also ein wahrhaftiger Landstreicher?", fragte Anne nun. „Sehr richtig.", sagte er charmant. Anne sah ihn jedoch nur wie die anderen interessiert an. Dann ergriff Diana das Wort. „Wenn es dir recht ist, kannst du mit uns zurückgehen. Wir werden bald aufbrechen und zeigen dir den Weg."

„Ja, und die erste Nacht kannst du sicherlich im Gemeindehaus verbringen!", schlug Charlie vor.

„Das klingt wunderbar. Ich danke euch für den netten Empfang und begleite euch gerne!"

Kurze Zeit später begann es zu dämmern und wir begaben uns auf den Heimweg. James stellte sich als sehr gesellig und symaphtisch heraus. Er hatte viel zu erzählen, bewahrte sich aber trotzdessen eine gewisse Verschwiegenheit, die ihn noch interessanter machte. Er berichtete, dass er durch Kanada reiste und vor ungefähr einer Woche in Charlottetown angekommen war und dort von Avonlea und der traumhaften Landschaft gehört hatte. Er war aufgebrochen und nun hier. Ich bemerkte, wie die anderen an seinen Lippen hingen, vor allem Jane schien sehr angetan. Wir lotsten ihn zum Gemeindehaus und schafften es die gerade noch anwesende Mrs. Lynde davon zu überzeugen, James Waters für eine Nacht Obdach zu gewähren. Erstaunlicherweise ließ sie sich breitschlagen; ihre Gedanken schienen ganz woanders und sie hatte es generell sehr eilig.

Wir wünschten James eine gute Nacht und dann verteilten wir alle uns in die unterschiedlichsten Richtungen. Bevor Anne und ich uns trennten, zog ich sie rasch in eine Umarmung.

„Scheint so, als würde man dir als Weitgereister Konkurrenz machen.", neckte sie mich und sah dabei unendlich liebenswert aus.

„Ach ja? Ich wette er war nicht in Trinidad."

„Ich kann dir versichern Gilbert, dass selbst wenn er es gewesen wäre, mich dieser Umstand geradezu erschreckend wenig interessieren würde, solange du nur vor mir stehst. Was wiederum auf anderer Ebne erschreckend ist.."

Ich musste schmunzeln und war froh eine Freundin zu haben, die solche Kompliemnte machen konnte. Nachdem wir uns endlich von einander gelöst hatten, machte ich mich auf den Heimweg und begrüßte dort Bash, seine Mutter und Elijah, die sich bereits zum Abendbrot versammelt hatten.

„Dieses dämliche Grinsen verrät dich, Blythe.", sagte Bash irgendwann trocken.

Seine Mutter schaute ihn mahned an und Elijah brach in schallendes Gelächter aus. „Ich weiß noch immer nicht genau, worum es bei eurer Geheimnistuerei geht..", sagte er schließlich verzweifelt lachend.

„Gilbert ist verliebt.", verriet Bash säuselnd. „Bash neigt zum Übertreiben.", konterte ich und versuchte so zu tun als wäre ich nicht in meinen Gedanken an sie ertappt worden.

„Hoffnungslos verliebt.", wiederholte Bash nur und Elijah nickte halb wissend, halb verwirrt.

Anne & Gilbert (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt