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Ich war aufgeregt. Bereits als ich noch in Toronto war, pochte mein Herz nervös in freudiger Erwartung auf das Bevorstehende. Die Tage vor der Abfahrt fiel es mir schwer mich auf anderes zu konzentrieren. Zu Ende des Semesters hatte ich viel zu tuen, doch als es am Tag vor meiner Abreise an das Packen meiner Koffer ging, war ich zugegebenermaßen wirklich aufgeregt. Ich versuchte krampfhaft mir dies vor den anderen Jungen nicht anmerken zu lassen und hörte ihnen stattdessen bei ihren Plänen für den Sommer zu.

John würde in Toronto bleiben. Allerdings nicht im Studentenwohnheim, sondern bei seiner Familie. Seine Cousine hatte ich ja bereits kennengelernt..
Jasper würde zu seinem Onkel nach Vancouver reisen, was mir durchaus abenteuerlich vorkam. Charlies Planung war mir unklar, aber er würde uns später sicherlich von seinen Erlebnissen berichten.
In meinen Koffer wanderten währenddessen Leinenhemden und Hosen. Einige Bücher und weiteres. Ehrlich gesagt war ich ziemlich ungeschickt, was geschicktes Kofferpacken anging. Überfordert versuchte ich meine Habseligkeiten in dem mittlerweile prall gefüllten Koffer unterzubringen. Jedoch sollte sich das Verschließen als die größte Hürde hinausstellen. Die Schnallen schienen sich hartnäckig zu weigern.

„Na Blythe, was versuchst du denn da?", fragte Jasper belustigt. „Ist das nicht offensichtlich?", fragte ich ächzend, wenn auch noch immer erfolglos. „Beweis und doch mal, dass du'n paar Muskeln hast!", rief Andrew spöttisch zu mir herüber. Er war die meiste Zeit über ein ziemlich unangenehmer Mitbewohner und wir waren auch nicht sonderlich gut befreundet, aber er gehörte dazu und seine Herausforderung stachelte mich nur allzu sehr an, mich nun wirklich mit meinem ganzen Gewicht auf den Koffer zu Stämmen. Zum meinem Glück zeigte dies Wirkung. Die anderen Jungen johlten mir scherzhaft zu. Die Stimmung war gut. Ein jeder freute sich auf Freunde, Familie und Heimat.

Die Nacht war unruhig und ich wälzte mich in meinem schmalen Bett hin und her. Doch als ich am nächsten Morgen durch den Lärm der anderen erwachte, war ich trotzdem voller Tatendrang. Wir alle kleideten uns an und verabschiedeten uns daraufhin. Jasper klopfte mir auf die Schulter und wünschte mir „viel Vergnügen mit meiner Anne"  - wie auch immer er das meinte. Es war seltsam, denn in ihm hatte ich nach kurzer Zeit einen so guten Freund gefunden, wie ich in Avonlea nie einen gehabt hatte. Abgesehen von Bash natürlich. Anne hätte Jasper und mich wahrscheinlich als verwandte Seelen bezeichnet.

Schon waren meine Gedanken wieder bei ihr. Ich versuchte meine Haare nicht so auszusehen zu lassen als hätte ich mehrere Hurrikane durchquert, was nur halbwegs gut funktionierte. Ob sie mich eigentlich gutaussehend fand? Anne Shirley Cuthbert kam mir nicht wie ein Mädchen vor, dass sich für das Aussehen eines Jungen begeistern konnte. Allerdings erinnerte ich mich auch, wie damals manchmal ihr Blick auf mir gelegen hatte und mit ein bisschen Vorstellungskraft hatte das etwas zu bedeuten...

Mir fiel auf, dass, wenn ich weiter Zeit vertrödeln würde, ich definitiv meinen Zug verpassen würde. Ich machte mich also auf den Weg zum Bahnhof. Als Lösung meines Haarproblems stellte sich übrigens meine Stoffmütze heraus.

Bevor mein Zug im Bahnhof von Toronto einfuhr, hatte ich noch genug Zeit an einem Stand einen kleinen Blumenstrauß für Anne zu erwerben. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie sich freuen würde oder es albern fände, deswegen nur ein kleiner Strauß.

Der Zug ratterte durch die Landschaft. Meine Reise schien ewig zu dauern. Später setzte ich von Nova Scotia auf Prince Edward Island über und fuhr von dort aus weiter nach Charlottetown. Dort stieg ich ein weiteres Mal um. Doch diesmal war ich meinem Ziel näher denn je. Und plötzlich, nach dieser quälend langen Fahrt, sagte der Schaffner „Avonlea" als nächsten Halt an. Ich war hellwach und suchte meine Sachen beisammen. Meinen Koffer hielt ich in der linken, die Blumen in der rechten Hand. Ich stand bereits an der Tür des Zuges, als er immer schleichender wurde und ich die gewohnten Umrisse meiner Heimat immer genauer sehen konnte. Und dann hielt er. Es waren nicht wenige, die aus dem Zug ausstiegen und mindestens genau so viele wollten einsteigen und warteten drängend am Gleis. Ein Wirrwarr entstand, aus dem ich mich erst nach gewisser Zeit befreien konnte. Dann stand ich auf dem nicht mehr ganz so vollen Gleis und blickte mich suchend um.

Ich drehte mich halb und da stand sie. Unsere Blicke trafen sich und als wären wir das Spiegelbild des jeweils anderen zog sich gleichzeitig ein Lächeln über unsere Gesichter. Ich stellte meinen Koffer ab und Anne rannte auf mich zu. Wir fielen uns in die Arme. Endlich hatte ich meine Anne wieder im Arm.
Die Umgebung verschwamm und irgendwann blickte sie zu mir auf. Erst schien sie sprachlos, doch dann sagte sie: „Ich liebe dich, Gilbert Blythe." Das einzige was ich erwidern konnte war: „ Ich liebe dich, Anne Shirley Cuthbert." Wir verfielen, unberührt von den anderen Passagieren, in einen Kuss, der mir noch schöner als unser erster schien.

„Wuhuu!", hörten wir es in unserem Rücken jubeln und als wir uns lösten, war unsere halbe alte Klasse dort versammelt. Anne war beschämt, dass sah man an ihren roten Wangen, doch ich legte ihr ein Arm um die Schulter, nahm meinen Koffer wieder auf und wir gingen auf die anderen zu. „Gilbert, du legst wirklich immer die besten Auftritte hin. Sicher, dass du Arzt und nicht Schauspieler werden willst?", rief Moody scherzhaft und wir begrüßten uns freundschaftlich. Während ich alle begrüßte, erschienen auch die Eltern aller anderen. Die Cuthberts, Die Barrys, die Andrews.., kurz war ich etwas wehmütig, doch plötzlich rückte Bashs grinsendes Gesicht in mein Blickfeld. „Na Blythe!", rief er laut und freudig aus. Wir umarmten uns und ich war froh ihn wieder zusehen. Nachdem sich nun endgültig alle begrüßt hatten, gingen wir ehemaligen Klassenkameraden zusammen vor.

Ich ging etwas weiter hinten neben Anne. Gerne hätte ich mich mit ihr unterhalten, doch gerade erzählte Tillie uns allen eine Geschichte und es wäre sehr unhöflich gewesen, sie zu übergehen. Stattdessen zog ich meine Blumen wieder hervor und legte meinen Arm so um Anne, dass sie praktisch direkt vor ihrem Gesicht auftauchten. Irritiert schaute sie zu mir, doch ich lächelte nur wissend und dann schien sie zu verstehen. Ich weiß nicht, ob es Tränen der Rührung in ihrem Augenwinkel waren, die sie sich nicht anmerken ließ, auf jeden Fall waren die Blumen eine gute Idee gewesen, denn ich wurde mit einem sanften Wangenkuss belohnt, der mich endgültig außer Fassung brachte. Anne strich derweil über ihre Blumen und ich sah, wie sie und Diana sich einen verschwörerischen Blick zuwarfen. Wobei Dianas geradezu „Siehst du?" zu sagen schien.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now