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Meine letzte Woche in Avonlea war angebrochen. Doch das bedeutete auch, dass ich nur noch eine Woche mit Gilbert hatte.
Der Gedanke, dass wir uns dann wieder monatelang nur per Brief austauschen konnten, bedrückte mein Gemüt, doch ich nahm mir deshalb umso mehr vor, aus den letzten gemeinsamen Tagen die schönsten überhaupt zu machen.
Nach unserer Versöhnung hatten Gilbert und ich bereits eine kleine Wanderung durchs Umland und einen weiteren Besuch bei Mrs. Stacy unternommen.
Ich blieb bei der Meinung, dass sie eine großartige Persönlichkeit und weiterhin mein einziges Vorbild war.
Obwohl, das stimmte nicht ganz. Ich ließ mich ebenso gerne von Dianas Anmut und Marillas Tüchtigkeit inspirieren. Und auch Jerrys Lebenslust, Matthews Gelassenheit, Bashs Humor und Gilberts ewiges Interesse beeindruckten mich.
Ach, was gab es herrlicheres als zu Begreifen, dass man von den wunderbarsten und liebenswürdigsten Menschen umgeben war, die einen so faszinierten und doch von ihnen lernen ließen! Ich fühlte mich von so viel Glück, dass ich gar nicht wusste, wohin damit.

.....

Den gestrigen Vormittag hatte ich bei Diana verbracht. Sie hatte mich zu sich eingeladen. Erste hatte ich Bedenken Marilla abermals alleine zu lassen, aber sie versicherte mir, dass ich ruhig gehen sollte und beruhigender Weise ging es auch Matthew jeden Tag besser.
So saß ich wenige Stunden später mit Diana auf ihrem Bett und wir unterhielten uns. (Natürlich weihte ich sie auch über die neusten Entwicklungen in Bezug auf Gilbert ein - nie würde ich ihr geradezu auf mütterliche Weise erleichtertes Gesicht vergessen, als ich ihr erzählt hatte, dass wir unseren Streit geklärt hatten.) Wir lachten viel und doch schienen die Gedanken meiner engsten Freundin besorgt und manchmal weit weg. Ich ahnte, dass sie etwas bedrückte, doch etwas an ihrer Art hielt mich davon ab danach zu fragen.
Stattdessen tat ich bloß mein Bestes ihr zu zeigen, dass ich immer und ewig für sie da war und sie immer unterstützen würde.
Später lieh sie mir ein Buch aus, von dem sie darauf bestand, dass ich sobald wie möglich anfing es zu lesen. Eine Forderung, der ich mit Freude nachgehen würde.

Den Nachmittag hatte ich dann bei Gilbert verbracht. Es war außerordentlich amüsant gewesen, Bashs hin und wieder eingestreuten Kommentaren über diese  „neumodischen erschreckend klischeehaft verliebten Pärchen", womit er eindeutig uns meinte, zu hören und Gilberts darüber amüsiert genervt angezogenen Augenbrauen zu beobachten. Derweil fütterte ich die kleine Delphine, die in letzter Zeit beachtlich gewachsen war. Trotzdem hatte sie noch diese liebreizenden kleinen Finger, die mir manchmal mit störrischer Beständigkeit, sehr beachtlich für ihr immer noch junges Alter, an meinen Haaren zogen und auch ihre Haare kräuselten sich noch in niedlichen Verwirrungen über ihren runden Kopf. Von ihren unschuldigen Augen wollte ich gar nicht erst beginnen. Ich war davon überzeugt, dass sie später mindestens so sanft und temperamentvoll zugleich wie Marry werden würde.

Einmal spürte ich Gilberts Blick auf mir liegen. Als ich zu ihm aufschaute, hatte er einen abwesenden und zugleich glitzernden Ausdruck in seinen tiefbraunen Augen, der unmöglich zu deuten war.

.....

Heute war unser vorletzter Tag. Wir alle, meine Freundinnen, viele derer Eltern und auch Gilbert, hatten uns zu einem letzten Zusammentreffen am Wasser, wie ich es nannte, verabredet. Dabei brachte jeder etwas mit; Marilla beispielsweise hatte ihre herrlichen Vanilleplunder zubereitet, die sie für gewöhnlich nur zu ganz besonderen Anlässen beisteuerte. Doch Marilla meinte bloß mit einem vielsagenden und zugleich für ihre Art fast geheimnisvollen Blick, dass das definitiv ein besonderer Anlass sei.
Zu meiner großen Überraschung hatte sie mir dann am Morgen ein rosafarbenen Rock überreicht, der von wunderschöner Feinheit war und sich seidig an mich schmiegte. Ich war direkt verzaubert von dem unendlich edlen Stoff. Er würde wunderbar mit meiner weißen Bluse aussehen und Marilla bestärkte mich sogleich, ihn heute zu tragen.
Als ich sie fragte, warum sie mich so reich beschenkte, meinte sie nur mit einem Augenzwinkern, es sei für eine glorreiche Zukunft.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now