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Auf dem Heimweg dachte ich über den bisherigen Tag nach. Mrs. Stacy, die ich endlich wiedergesehen hatte und die sich mehr denn je wie eine verwandte Seele anfühlte. Und an Gilbert und an James, den Landstreicher, den wir heute kennengelernt hatten.

Derweil passierte ich die herrschaftlichsten Linden in den schönsten Grüntönen, die Mutter Erde zu bieten hatte. Von diesem Moment an taufte ich diesen Wegabschnitt „die Allee, des edelsten Lebens".
Eigentlich hatte ich keinen langen Weg zu gehen, doch ich setzte jeden Schritt so bedächtig, dass ich erst nach langer Zeit auf Green Gables angelangte. Dunkel war es noch nicht, doch der Himmel färbte sich bereits in orange und rosa, sodass ich mir nicht sicher war, ob ich träumte oder dies die echte Welt war.

Als ich jedoch über die Schwelle der Tür Schritt, wurde mein himmlischer sanfter Traum schlagartig zu einem sich anbahnenden Alptraum. Doch das erfuhr ich nicht direkt.

„Marilla, ist heute nicht ein wundervoller Tag? Wir alle haben einen herrlichen Spaziergang gemacht und neue Bekanntschaften geknüpft. Von dem traumhaften Wetter will ich gar nicht erst anfangen, obwohl es wahrlich verdient hat, dass man darüber schwärmt-", ich stockte als ich Marillas müden Gesichtsausdruck bemerkte.

„Was ist los Marilla, geht es dir nicht gut?", fragte ich besorgt.

„Mir geht es gut Anne, aber Matthew nicht. Hör zu und setz dich her, ich muss mit dir über etwas wichtiges sprechen.
Es tut mir sehr leid, dass dein schöner Tag so unschön endet, aber Matthew ist krank geworden. Davon wollte ich dir erzählen. Er hatte heute früh Fieber und da Doktor Martin zufällig in Avonlea war, hat er nach ihm gesehen. Matthew schein die Blattern zu haben...", sagte sie ruhig, doch ich spürte ihre Besorgnis. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Blattern waren nichts Gutes.

„Wie geht es ihm denn? Er wird doch gesund werden! Ich gehe sofort zu ihm." Mit einem Mal war ich sehr aufgewühlt.

„So leid es mir tut Anne, du kannst jetzt nicht zu ihm. Er ist sehr ansteckend und Dr. Martin hat uns dazu angehalten, uns so fern wie möglich von ihm zu halten."

„Aber-", wollte ich erwiedern, doch Marilla schnitt mir das Wort ab: „Es geht wirklich nicht Anne. Ich bin sicher, solange wir uns nur gut um Matthew und die Farm kümmern und fromm für ihn beten, wird seine Krankheit schneller wieder überwunden sein als sie überhaupt aufgetaucht ist. Hm?", sie drückte meine Hand und ich wollte ihr so unendlich gerne glauben.

Auch wusste ich, dass Marilla recht hatte, das Risiko sich anzustecken war sehr hoch.
Matthew würde es sicherlich bald wieder besser gehen. Gemeinsam hatten wir schon viele Krisen überwunden. Marilla und ich setzten uns auf und bereiteten gemeinsam das Abendbrot vor. Für Matthew machten wir eine karge Suppe, die ihn, laut dem Doktor, stärken und ihm helfen werde. Marilla brachte ihm das Essen an sein Zimmer und dann saßen wir zu zweit am Tisch.

Fast hätte ich vergessen Jerry etwas zu bringen, doch glücklicherweise dachte ich noch rechtzeitig daran und lief schnell mit einem gut gefüllten Teller hinüber zur Scheune. Dort sah ich Jerry im Stroh sitzen und lesen.

"Ihr Abendmahl, verehrter Herr.", kündigte ich mich an. „Oh Anne", er legte schnell sein Buch beiseite, „vielen Dank. Wie geht es Mr. Cuthbert? Es hieß heute morgen, er wäre etwas krank - hoffentlich nichts Ernstes?"

„Nein, gewiss nicht. Er hat etwas Fieber und wird die nächsten Tage nicht arbeiten können, doch ich hoffe, dass er bald wieder wohlauf sein wird." Ich wollte Jerry nicht grundlos beunruhigen, ihn aber auch nicht anlügen. So, so erhoffte ich es mir, hatte ich weder das eine, noch das andere getan.

„Ah, das ist gut. Dann sollte ich gut essen, denn alleine werde ich morgen viel zu Arbeiten haben!"

Ich nickte und warf dann einen interssierten Blick auf sein Buch. „Wirkt durchaus spannend auf mich", sagte ich auf darauf deutend, „ wenn du damit fertig bist, kannst du dir gerne ein anderes von mir leihen."

„Ehrlich? Dass würde ich gerne. Ich meine, wem könnte ich besser in meiner Buchauswahl vertrauen als dir?"

„Was das angeht bin ich gerne deine Vertraute.", sagte ich und wünschte ihm noch eine gute Nacht. Er mir ebenfalls. Auf dem Weg zurück zu Marilla fiel mir auf, wie gut ich mich mittlerweile mit Jerry verstand und wie sehr er mir ans Herz gewachsen war.

....

Es war ungewohnt ohne Matthew am Tisch zu sitzen. Auch wenn er nicht viel sprach, bewirkte seine Anwesenheit stets, dass ich mich wirklich zuhause fühlte. Ich erinnerte mich daran, dass er bald wieder bei uns sitzen würde. In dem Moment hörten wir ihn von oben husten.
Es war als wolle Marilla mich und auch sich selbst davon ablenken, denn kurz darauf ließen wir uns noch für einen kruzen Augenblick in der Wohnstube nieder. Ich entzündete ein schwaches Feuer und schaute den züngelnden Flammen beim Tanzen zu. Die feurig roten Flammen, die langsam aber bestimmt ein Holzstück nach dem anderen verschlangen beeindruckten und eerdeten mich zur selben Zeit. Marilla stickte derweil an einem Taschentuch, das mehr als edel aussah und das von Marillas handwerklichem Talent zeugte.

Schließlich löschten wir das Feuer und gingen zu Bett. Als ich an Matthews Tür vorbeikam flüsterte ich ein leises „Gute Nacht" durch den Spalt. Und als ich in meinem Bett lag, stand ich doch noch einmal auf und kniete mich davor. So begann ich für Matthews Gesundheit zu beten.

„Himmlischer Vater dort oben im Himmel,
ich bitte dich, lass Matthew, der wie ein Vater für mich ist und den ich über alles liebe, bald wieder gesund werden. Er arbeitet stets hart und ohne Beschwerden und ist ein herzensguter Mensch, dem ich nur das Beste wünsche. Ich bitte dich, schenk auch du ihm Kraft und Stärke seine Krankheit zu überwinden und sei an seiner Seite.

Gelobt seiest du in Ewigkeit,

Armen."

Daraufhin legte ich mich zu Bett und erinnerte mich wie in jeder schweren Zeit daran, dass sich alles bessern würde.

Anne & Gilbert (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt