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Am Abend kam ich endlich dazu Jerrys Brief zu lesen. Zwar war er bereits am Vormittag angekommen, doch ich hatte keinen Moment finden können, in dem ich ungestört gewesen wäre. Anne wäre von dem Briefaustausch sicherlich nicht begeistert und außerdem wollte ich seine Antwort zuerst alleine lesen. Jedoch musste ich mir eingestehen, dass ich Angst davor hatte, den Umschlag zu öffnen. Was, wenn Jerry noch immer wütend auf mich war und ich mich mit diesem Brief bloß noch dümmer als zuvor verhalten hatte?

Doch nun konnte ich es nicht weiter hinauszögern. Während die anderen Mädchen schlafend in ihren Betten lagen, zog ich leise den Brief aus meinem Nachttisch, in welchem ich diesen erst vorhin verschwinden lassen hatte. Nun saß ich im Nachthemd am Fenster. Der Mond warf sein schwaches Licht in das dunkle Zimmer und behutsam öffnete ich den Brief, ganz darauf bedacht keinen Lärm zu machen und  somit wohlmöglich noch die anderen zu wecken. Dann begann ich schließlich lesen.

Erleichterung durchströmte mich. Ich musste mich regelrecht zurückhalten meiner Freude keinen lauten Ausdruck zu verleihen und so beließ ich es bei einem sehr glücklichen Gesichtsausdruck. Man hatte mir meinen Fehler verzeiht. Jerry hatte mir verzeiht. Beseelt schaute ich in in den Sternenhimmel hinauf. Es war mir also möglich Dinge zu ändern, die ich einst falsch gemacht hatte. Vielleicht nicht immer, aber zumindest im Moment und darüber war ich undenkbar froh. Bald würde ich Jerry sehen und wir würden uns aussprechen können. Was sich daraus ergeben würde, überließ ich meinem Schicksal.

Lange schaute ich in den Nachthimmel. Die Bäume und weit entfernten Häuser draußen verschwommen zu einem dunklen Bild. Ich öffnete das Fenster und ließ das herrliche Rauschen des Windes hinein. Schwach schimmerten die Sterne am Himmel und ich ließ mir die Haare vom Wind zerzausen. Seltsam, in welch unpassenden Momenten man sich frei fühlen konnte..
Ich ließ das Fenster geöffnet, bis ich zu sehr fror und es langsam schloss.

Da kam mir ein anderer Gedanke in den Sinn. Die Musik. Ich studierte nun am Queens College, hier in Charlottetown. Die Möglichkeit dazu erfüllte mich täglich mit Dankbarkeit, jedoch hatte ich seit meiner Ankunft hier gänzlich mit dem Musizieren aufgehört. Unten im Salon stand ein Flügel und wann immer ich einen Blick darauf erhaschte, zog sich meine Brust sehnsüchtig zusammen. Ich wusste selbst nicht genau, warum ich ihn gemieden hatte, doch nun entbrannte meine tiefste Leidenschaft wieder in mir. Ohne darüber nachzudenken, schlich ich leise die Treppen hinunter. Es war waghalsig, denn im Nachthemd und barfuß von der Oberin erwischt zu werden, konnte zum Rauswurf führen, doch erstaunlicherweise dachte ich nicht daran. Ich umging die alten knarzenden Dielen, bis ich im Salon ankam.

Da stand er, der Flügel. Bereits etwas mitgenommen, aber noch immer edel und herrschaftlich. Langsam strich ich über seine Seiten und dann behutsam über die Tasten. Wie hatte ich dieses Gefühl vermisst. Ich musste mich zurückhalten, um nicht anzufangen zu spielen. Alles in mir drängte danach, doch bevor ich noch mehr Dummes tun konnte, huschte ich schnell zurück in mein Zimmer. Erst unter der warmen Decke spürte ich, wie kalt mir unter dem dünnen Stoff  gewesen war. Bald drauf fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

....

Die Wochen darauf verbrachten wir mit Lernen, Schreiben und noch mehr von beidem. Anne zusätzlich mit Träumereien und ich mit Klavier und Gesang. Anne hatte mich bei meinen Plänen direkt unterstützt und ich hatte mich mit der Bitte, Klavier und Gesangsunterricht nehmen zu dürfen, an meine Eltern gewandt. Es schien, als hätten sie mir diesen Wunsch sogar sehr gerne erfüllt. Vielleicht erfreuten sie sich über den Funken Damenhaftigkeit, der noch an mir hängengeblieben war. In jedem Fall hatte ich nun mein Liebstes wieder aufgenommen und die Leiterin des Wohnheims hatte mir erlaubt, am Flügel des Hauses zu üben.

Es hätte nicht schöner sein können. Anne sprach ständig davon, dass sie kaum glauben konnte, dass bald dieses Semester beendet sein würde und wie sehr sie sich auf Avonlea freute. Und dann kam der Tag des Kofferpackens. Alle schriftlichen Aufsätze waren abgegeben, das Halbjahr beendet und morgen würde unser Zug nach Avonlea fahren. Ruby, Tillie, die anderen Mädchen, Anne und ich würden gegen zwölf abfahren und bald darauf in unserer geliebten Heimat ankommen. Anne hatte mir berichtet, dass Gilberts Zug kurz nach unserem dort eintreffen würde, sodass wir ihn empfangen können würden. Ich glaubte, dass sie sehr aufgeregt war. Während des Packens platzte es dann aus ihr heraus. „Diana?", fragte sie nervös, „Was, wenn er mich gar nicht mehr mag, und er längst ein anderes Mädchen kennengelernt hat? Eine, die vielleicht doch braune Augen hat und auch aus Toronto kommt? Ich glaube, dass würde ich nicht verkraften!" Sagte sie und meinte es tatsächlich ernst.

„Also zu einen wäre er dann sehr dumm und zu anderen, weiß ich zwar nicht genau, was ihr in euren Briefen schreibt, aber ich glaube nicht, dass du die ganze Zeit über so glücklich wärst, wenn darin stünde, dass er dich nicht leiden kann...", versuchte ich sie zu beruhigen.
„Stimmt, du hast recht!", sagte Anne. „Du hast absolut recht." Dann straffte sie ihre Schultern und legte einen ihrer Röcke zusammen.

Nachdem ich eine Weile lang eine sanfte Melodie gesummt hatte, meldete sie sie sich abermals zu Wort: „Oh Diana, ich bin doch sehr aufgeregt. Ich hätte früher wohl kaum gedacht, dass ich einmal so aufgeregt sein würde, nach Avonlea zu fahren..."

„Ach ich freue mich doch auch Anne. Und außerdem möchte ich endlich MinnieMay und all unsere anderen Freunde wiedersehen!"

„Wie recht du hast," rief Anne begeistert aus, „und vielleicht können wir zusammen ans Wasser gehen." Die Idee gefiel mir, doch Anne schien schon wieder drei Gedanken weiter zu sein. „Und wir sollten unbedingt Mrs. Stacy besuchen, das wäre sicherlich sehr nett. Aber wahrscheinlich werden wir sie sowieso schon in unseren ersten Tagen treffen... Die anderen werden mit Sicherheit viel zu erzählen haben, wenn ich nur daran denke, was wir alles gelernt und erlebt haben. Und Gilbert erst.."

Sie redete noch eine lange Zeit so weiter. Vermischte vergangene Geschichten und mögliche Zukünfte. Doch ich hörte ihr gerne zu, denn nicht nur ihre malerische Ausdrucksweise machten ihr Erzählen besonders - es war auch das Feuer in ihren Augen.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now