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Ich war aufgeregt. Obwohl nervös auch ein passender Begriff war. Vielleicht war ich auch ungewiss - oder doch entschlossen?
Es war wohl ein Wirrwarr von Gefühlen, die ruhelos durch meine Brust polterten, als ich schnellen Schrittes den Waldweg in Richtung Green Gables entlang ging.
Anne und ich hatten uns im Laufe der Jahre schon oft in die Haare gekriegt. Ich wusste wie stur sie sein konnte. Außerdem hatten sich, bis jetzt, unsere, nenne man sie „Auseinandersetzungen", immer irgendwann verflüchtigt und im stillen geklärt. Diesmal jedoch bedurfte es einer Klärung. Wobei ich eigentlich ungern an unseren Streit zurückdachte. Er war viel persönlicher als die Neckereien über Buchstabierwettbewerbe, obwohl man anmerken muss, dass ich ihr darin eindeutig überlegen war und bin, früher gewesen und insgeheim sehnte ich mich danach Anne wieder Nahe zu sein.
Unerträglich war der Gedanke, dass sie wahrscheinlich unendlich wütend auf mich war.

Hoffentlich war James gerade nicht da.

Bei all den Gedanken war ich längst vor dem Zauntor Green Gables' angekommen. Da es verschlossen war, kletterte ich kurzerhand darüber. Ich sah das Haus und die Scheune und versuchte gleichzeitig mich zu sammeln, doch da trat Anne mit einem Wäschekorb unterm Arm aus der Tür auf die Veranda und raubte mir damit nicht nur jeglichen Atem, sondern auch alle klaren Gedanken.

„Gilbert.", sagte sie. Ihre bis eben vor Glück geradeso strotzende Miene verrutschte. Sie zog nämlich überrascht ihre Augenbrauen nach oben und ihr Mund öffnete sich leicht.

Wie hatte ich ihre Schönheit so vergessen können? Ihre zart geschwungen Augenbrauen, die feuerroten Haare, die edlen Lippen und das lebensfrohe Gesicht... Ihr plötzlicher Anblick überforderte mich.
All meine Worte waren vergessen, ich konnte bloß schlicht „Anne." sagen.

Die Zeit blieb stehen, doch dann überwand sie unsere seltsame Distanz. Unachtsam ließ sie den Korb zu Boden und eilte die wenigen Treppen hinunter, auf mich zu bis sie mir in die Arme fiel. Angst und Sorgen verließen mich, ich wusste: Alles würde gut werden, solange ich Anne nur in meinen Armen hielt. Meine Anne.

....

Nachdem wir eine lange Zeit draußen gestanden hatten, hatte Anne mich herein gebeten und wir gingen hinauf auf ihr Zimmer. Ich war erst ein einziges Mal hier gewesen und zwar als ich ihr den Brief, den sie nie gelesen hatte, auf den Schreibtisch gelegt hatte, doch nun zusammen mit ihr hier in dem engen Raum zu sein war anders. Irgendwie seltsam nah.

Wir setzten uns auf den Boden.
Zu allererst berichtete sie mir von Mr. Cuthberts Gesundheitszustand. Ich konnte mir kaum vorstellen, was sie in den letzten Tagen durchgemacht haben musste und ärgerte mich nur noch mehr über mein idiotisches Verhalten. Zum Glück lebte er.

„Anne", unterbrach ich sie dann, weil sie anfing wirr über die Farbe der Wand zu reden, weil sie anscheinend die aufkommende Stille füllen wollte. Das war zwar sehr süß, aber mir lag noch etwas auf dem Herzen. „Ich bitte dich um Verzeihung. Ich war unglaublich ungerecht und hätte dir vertrauen müssen. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber dieser James Waters ist mir nicht ganz geheuer gewesen. Trotzdem, ich war oder bin eifersüchtig auf ihn, aber das hätte ich dir niemals vorwerfen dürfen. Ich werde mit ihm bereden, was ich ihm sagen will.
Es tut mir einfach sehr leid...", ich holte tief Luft und wartete dann gequält auf eine Antwort.

„Ich fürchte, dafür ist es zu spät", sagte Anne schließlich, fuhr, als sie meinen entsetzten Blick sah, jedoch schnell fort, „ also um mit James zu reden, meine ich." Ich entspannte mich etwas. „Er ist über Nacht verschwunden und hat mir einen Brief hinterlassen, in dem er schrieb, dass er mich anscheinend wirklich etwas mochte... Aber Gilbert, ich versichere dir, ich sah in ihm nie mehr als einen guten Freund. Und ehrlich gesagt kann ich dir garnicht böse sein - wahrscheinlich hätte ich ganz ähnlich gehandelt. Lass uns aus Fehlern lernen, das klingt doch schlau.
Natürlich verzeihe ich dir also Gilbert Blythe.", endete sie.

Ich war endgültig erleichtert. Und fühlte mich gleichzeitig ein bisschen bestätigt. Wenigstens war meine Eifersucht nicht ganz unbegründet gewesen. Folgendes wollte ich kaum vor mir selber zugeben, aber ich war froh, dass James Waters weg war - noch froher aber war ich darüber, dass Anne mir verzeihte.

„Und nun", setzte das Mädchen vor mir etwas stockend an und beugte sich dabei gleichzeitig zu mir vor, „will ich dass du mich küsst ..."

Mir blieb die Luft aus. Doch ihrer Bitte ging ich gerne nach. Langsam legte ich meine Hand in ihren Nacken und zog ihren Kopf ganz nah an meinen, bis uns nur noch Millimeter trennten.
„Ihr Wunsch ist mir Befehl.", hauchte ich leise gegen ihre Lippen. Ich spürte eine Gänsehaut unter meiner Hand und legte dann endlich meine Lippen auf die ihren. Ich hatte mich selbst kaum noch beherrschen können.

Annes weiche Lippen auf meinen zu spüren, war eine Tatsache, die ich noch immer nicht wirklich erfassen konnte.
Dafür spürte ich mindestens tausend andere Sachen:
ihre Taille, dich ich mit meiner linken Hand hielt und die sich unter dieser weich und weiblich geschwungen anfühlte,
die Wärme, die sie ausstrahlte,
ihre Hand, die über meine Brust strich und mein Herz noch schneller schlagen ließ.
All das und noch viel mehr nahmen mich ganz ein, ja, Annes Präsenz schien sogar Kontrolle über meine Gedanken zu übernehmen.

In mir flammte jedoch ein Feuer. Unser Kuss intensivierte sich.
Ihr musste leicht keuchen als Anne ihr Gewicht nach vorne verlagerte und somit halb auf mich drauf rutschte. Weiter berührte ich Anne mit meinen Händen, doch irgendwann stoppte ich.

„Anne, wir müssen glaube ich aufhören.", sagte ich atemlos. „Ich verliere noch jegliche Beherrschung." Das war keine Lüge, mein Kopf begann bereits Bilder zu malen, die mir dann doch höchst unsittlich vorkamen.

„Da hast du wohl recht.", sagte das wunderschöne Mädchen vor mir langsam und wie gebannt.
„Aber ich verspreche dir, Gilbet Blythe, eines Tages werde ich dich sosehr lieben, dass du wirklich erlebst, was es heißt die Beherrschung zu verlieren.", sagte sie jetzt verheißungsvoll, was ich von ihr nicht erwartet hatte. Gleichzeitig ließen ihre Worte mich erschaudern und in diesem Moment wollte ich nichts mehr als mein ganzes Leben mit Anne zu verbringen.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now