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Kaum etwas konnte so schön sein, wie die Briefe, die Gilbert mir schrieb. Selbst mit der stärksten Vorstellungskraft konnte ich mir nichts schöneres ausmalen. Die Zeilen, die er schrieb und die Komplimente darin. Wann immer ich einen seiner Briefe las, durchfuhr mich dieses aufgeregte kribbelnde Gefühl. Der Gedanke, dass er diese Briefe nur für mich schrieb und dass er ähnlich wie ich fühlte. Das einzig schönere, dass ich mir denken konnte, war ihn endlich wiederzusehen. Zu meinem Glück würde dies bald der Fall sein. In zwei Wochen würde ich am Bahnhof stehen, um dort auf seine Ankunft zu warten. Gilbert würde aus dem Zug steigen und vielleicht würden wir uns umarmen und dann...

Oh, wie dumm war ich damals doch gewesen, von einer unerwiderten Liebe zu träumen! Ich weiß, ich hatte bereits viele törichte Dinge getan, aber das erschien mir doch der größte Fehler gewesen zu sein. Sicher, ich liebte noch immer diese traurig schönen Liebesgeschichten, doch ich glaubte, dass ich die unerwiderte Liebe doch lieber den Figuren in den Geschichten überließ, denn so schön es auch klang, noch einmal wollte ich das nicht fühlen.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Diana das Zimmer betrat. „Oh Anne! Ich hatte nicht gedacht, dass du hier bist!", sagte sie verschreckt. Seit den letzten Tagen benahm sie sich etwas seltsam. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg und ich hatte sie einige Male beobachtet, wie sie gedankenverloren an den Rüschen ihres Kleides spielte. Manchmal schaute sie auch einfach starr geradeaus in die Ferne, als würde sie vor ihrem inneren Auge eigene Pläne schmieden. Ich hoffte, dass sie mir bald erzählen würde, worüber sie nachdachte.

Jetzt sah ich erst, dass sie einen Brief in ihren Händen hielt. Doch sie schritt schnell in den Raum und ließ ihn in ihrem Nachttisch verschwinden, sodass ich keinen weiteren Blick darauf werfen konnte. „Und woran denkst du?", fragte sie mich und setzte sich neben mich aufs Bett. Ich merkte, dass sie versuchte mich abzulenken, aber ließ mich darauf ein. Sie würde mir schon erzählen, was sie beschäftige, sobald es passte. Trotzdessen war meine Neugier groß.

„Ich denke daran, dass bald die Sommerpause beginnt. Und wen wir alles wiedersehen werden. Bash und Jerry und sogar auf Mrs. Lynde freue ich mich!", schwärmte ich.
Derzeit arbeitete ich noch an einem Aufsatz, den ich vor Ende des Semesters, wie die anderen Mädchen auch, abgeben musste. Doch dann konnte der wahre Sommer beginnen.

„Sicher, dass du dich nicht auch noch auf jemand anderen freust?", fragte Diana neckend. Mein Grinsen verriet mich.

"Du hast recht, wie konnte ich Mrs. Stacy bloß vergessen?!", rief ich empört aus. Diana schaute mich leicht verstört an und ich grinste triumphierend.

Nachdem wir beide uns noch eine Weile unterhalten hatten, machte ich mich auf zur Universität. Die dortige Bibliothek war mir der liebste Ort, um ungestört an meinem Aufsatz zu arbeiten. Zwar war sie mit Sicherheit nicht so groß und imposant wie Gilberts in Toronto, aber mir reichte sie allemal. Diana versprach nachzukommen. Und so stand ich, bevor ich losging, für einen kurzen Moment alleine vor dem Spiegel meiner Kommode. Ja, ich war noch immer nicht wunderschön oder dergleichen, aber ich hatte begonnen mein Aussehen zu schätzen. Inzwischen gefielen mir meine feurig roten Haare und auch wenn ich noch immer von braunen Augen träumte, die meinen hatten auch etwas. Sie bildeten einen Kontrast zu meinen Haaren, der mir früher gar nicht aufgefallen war. Wie albern ich damals doch gewesen war, als ich dafür gebetet hatte, später einmal gut auszusehen.

Mein Blick fiel nun auf den feinen Hut von Marilla, den ich trug und gleichzeitig musste ich daran denken, wie Gilbert mein Aussehen in seinem letzten Brief mit einem Gedicht verglichen hatte und mit einem Mal waren auch meine letzten Zweifel wie davon geweht. Ich strich mir eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr und schaute gleichzeitig meinem Spiegelbild dabei zu. „Ich glaube", flüsterte ich, „ du wärst stolz auf mich Cordelia." Dann ging ich.

Ich musste mich zusammenreißen nicht in einen gemütlichen Spaziergang durch Charlottetown zu verfallen, sondern mich auf mein eigentliches Ziel zu besinnen - das Queens College.

In der Bibliothek angelangt zogen mich der altmodische Geruch und die Magie der unzähligen Bücher einmal wieder in ihren Bann. Ich war fasziniert von den Unmengen an Büchern und strich beim Gehen verstohlen über die verstaubten Einbände. Wie viele unentdeckte Geschichten und Abenteuer hier auf einen warteten. Doch ich musste mich an das Wesentliche erinnern und so ließ ich mich an einem der Tische nieder. Ich las und schrieb, zitierte und überlegte über Stunden.

Auch Diana war inzwischen dazu gekommen und arbeitete mehr oder weniger konzentriert einige Plätze von mir entfernt. Was bloß in ihr vorging? Ich versuchte nicht über ihre Verschwiegenheit gekränkt zu sein und redete mir ein, dass es nicht an mir lag.

Während ich also ich meine Gedanken und meinen Text versunken war, merkte ich zunächst gar nicht, wie sich jemand gegenüber von mir an den Tisch setzte. Es war Charlie Sloane, der mich nun, leise flüsternd, um niemanden zu stören, begrüßte.

„Hey Anne.", sagte er, als ich ihn überrascht anschaute, weil ich ihn nicht hatte kommen sehen.

„Hi Charlie", sagte ich. Danach lächelte er mich nur noch kurz an, bis er plötzlich ruckartig seinen Kopf wegdrehte und anfing hektisch seine Schreibsachen und ein Buch hinaus zuholen.

Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, beschloss ich, mich nicht beirren zu lassen und fortzufahren. Jedoch meinte ich Charlies Blick auf mir zu spüren. Als ich aber aufschaute, schien er ganz auf seine Lektüre konzentriert; welche er allerdings falsch herum hielt. Diana hatte dies auch bemerkt und sie schmunzelte mich wissend an. Dann tippte sie Charlie sanft auf die Schulter: „Charlie, ich will dir zwar nichts vorschreiben, aber meinst du nicht, dass du mehr von deinem Buch verstehen würdest, wenn du es richtig herum hieltest?"

Perplex schaute er sie an und dann glitt sein Blick auf das Buch in seinen Händen. Dann wieder zu ihr hoch. „Ich ... äh, ja!", stotterte er. Kurz schaute er zu mir, doch blitzschnell wendete er sich wieder ab. Seine Wangen waren knallrot.
Diana und ich lächelten uns ein weiteres Mal zu. Auf dem gemeinsamen Heimweg kamen wir um diesen Vorfall nicht herum: „ Du weißt aber schon, dass Charlie total verliebt in dich ist?" Diana sah mich fragend an, doch ich war etwas überfordert.

„Jedenfalls tut er mir leid.",fuhr sie fort, „Denn ich denke, ich liege nicht falsch, wenn ich behaupte, dass er wenig Chancen bei dir hat..."

Diana hatte recht, mein Herz gehörte allein Gilbert.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now