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Als ich am Morgen erwachte, regnete es. In grauen Böen peitschten die nassen Tropfen gegen die Fensterscheibe. Ich versuchte das sich anbahnende Gefühl, dass es sich dabei um ein schlechtes Omen handelte, weit von mir fernzuhalten. Schließlich wusste ich, dass es Mr. Cuthbert immer schlechter ging. Doch diese Gedanken waren unerträglich.
Meine Eltern hatten mir längst verboten Green Gables zu betreten - zu groß die Sorge um eine mögliche Ansteckungsgefahr. Ich wusste, dass es höchst gemein, wenn nicht sogar ungerecht war, ihnen das zu unterstellen, aber manchmal fragte ich mich, ob sie auch mal an Matthew dachten und nicht immer nur an die eigenen Gefahren. Dieser herzensgute Mann rang mit dem Tod und sie gingen auf Abstand.
Aber was konnte ich tun? Ich wusste selbst, dass ich nicht wirklich würde helfen können. Weder in Farmarbeit noch in der Krankenpflege war ich sehr bewandert; bedauerlicherweise.

So verließ ich mein Bett und kleidete mich lustlos an. Meine Aussichten für den Tag waren so uninteressant wie gestern und vorgestern. Anne konnte ich nicht treffen und auch meine anderen Freunde nicht, denn der vermeintliche „Ausbruch" der Blattern in Avonlea hielt einen jeden von menschlichen Zusammentreffen ab. Zwar hatte Dr. Martin auf Nachfrage zur Vorsicht aufgerufen, nicht aber zur völligen Isolation. Ich hielt das für minimal übertrieben... Doch ich war mir mindestens genauso sicher, dass ich einen weiteren Tag mit meiner Familie im Salon zwischen Teetässchen, Klaviermusik und Boulevard Zeitschriften getarnt als modern und seriös nicht aushalten würde. Das ging partout nicht.

Ich hatte also, um eben genanntem Szenario zu entgehen ungefähr zwei Möglichkeiten: entweder konnte ich mich einfach längst möglich in meinen Zimmer aufhalten oder mich nach draußen bewegen. Angesichts des Wetters entschloß ich mich für Ersteres.
Letztendlich griff ich zu dem Buch, dass Tante Josephine mir bei ihrem letzten Besuch geschenkt hatte und welches erst vor kurzem erschienen war. Es hieß Little Women und gefiel mir unendlich gut. Es erzählt die Geschichte von vier jungen Schwestern und ihrem Aufwachsen, das trotz beschaulicher Verhältnisse schlichtweg einzigartig auf mich wirkt. Ich hatte bereits festgestellt, dass mich der Charakter der Joe March, der zweitältesten, wortgewandtesten und aufbrausendsten Schwester, verdächtig an Anne erinnerte. Es war nicht nur die kluge und laute Art, die sich überschnitt, auch die Gabe des schönen Schreibens und Formulierens.

Derweil überlegte ich lange zu welcher Figur aus dem Buche ich am ehesten passte. Ich kam zu keinem Ergebnis. Vielleicht musste ich Anne einmal den Roman zu lesen geben, damit sie mich von außen mit den Charakteren vergleichen konnte. Ich war überzeugt; mir fehlte lediglich ein anderer Blickwinkel.

Schließlich waren meine Augen müde geworden und ich legte das Buch beiseite. Sollte ich für das Studium lernen? Mein Magen sträubte sich dagegen. Ich beschloss mich zu überwinden und die breiten Treppen meines Elternhauses hinabzusteigen. Zu groß war meine plötzliche Sehnsucht nach dem unten stehenden Klavier. Auf genau diesem hatte ich die ersten Tön spielen gelernt. Im zarten Alter von vier Jahren als der Klavierhocker kaum größer als ich selbst gewesen war, sodass man mich wahrscheinlich noch darauf heben musste.

Leider blieb ich nicht lange unbemerkt. Ich hatte nicht lange gespielt - war gerade erst richtig warm geworden als sich meine Eltern, ohne das ich es bemerkt hatte, neben mir versammelten und mich unterbrachen.

„Diana Schatz, wir würden gerne ein äußerst wichtiges Thema mit dir ansprechen. Machst du bitte eine Pause?", sagte meine Mutter an mich gewandt.

„Sicher.", sagte ich mit leichtem Bedauern. Noch wusste ich nicht, was mich gleich erwarten würde.

„Diana, du bist ja kein so kleines Mädchen mehr wie erst kürzlich und wir sind uns sicher, dass du auch schon den ein oder anderen Gedanken daran hattest.", begann mein Vater. Ich war mir ernsthaft unsicher, ob ich wollte, das er zum Punkt kam - das unheilvolle Gefühl in meiner Brust verstärkte sich.

„Kurzum", wurde mein Vater schließlich von meiner Mutter unterbrochen, „wir wollen über das Heiraten sprechen, Diana."

Geschockt riss ich die Augen auf. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Doch ihre Blicke zeigten mir ganz eindeutig, dass sie es wohl doch ziemlich ernst meinten. Ich versuchte mich zu sammeln; jetzt musste ich sachlich und vernünftig bleiben.

„Was gibt es denn da zu bereden?", fragte ich unschuldig.

„Du wirst nächstes Jahr 18, Diana. Du bist kein Kind mehr und wir sollten uns früh genug nach einem geeigneten jungen Mann für dich umschauen und wenn du dann erst einmal verlobt bist...", geriet meine Mutter ins schwärmen. Ich sah daran leider rein gar nichts Entzückendes.

„Denkt ihr nicht, wir sollten mit diesem Thema warten bis ich mein Studium beendet habe?" Insgeheim dachte ich nicht im geringsten daran meine Eltern bezüglich einer Partnerwahl mitentscheiden zu lassen. Ich wusste sehr wohl, dass sie mich wie auch meine Schwester bestmöglich verheiraten wollten und dabei ihren so ersehnten Sohn erhalten, wenn auch nur in Form eines Schwiegersohns. Der Vorteil daran, sie konnten ihn ganz nach ihrem Geschmack aussuchen. Ich verzweifelte; wie sollte ich das überstehen? Sehnlichst wünschte ich mir Anne herbei, die in solchen Moment schon immer schlagfertiger gewesen war.

„Aber Diana, bei so was muss man rechtzeitig mit der Planung beginnen. Du willst doch keine einsame Frau werden und außerdem musst du später dein Leben finanzieren und eine Familie gründen!", setzte mein Vater in seinem belehrenden Tonfall an.
„Es gilt die Augen und Ohren nach einem gut erzogenen Herren von gutem Stand und Benehmen für dich zu finden und euch bald zu verloben!", sagte er nun altklug.

Vielleicht würden sie sich ausnahmsweise auf einen Kompromiss einlassen?

„Liebe Eltern, ich kann eure, wenn auch für mein Empfinden etwas frühzeitigen, Überlegungen nachvollziehen und will mich bemühen euren Wünschen für meine Zukunft gerecht zu werden, allerdings bitte ich euch selbst bezüglich meines Verlobten mitzuentscheidenden zu dürfen. Ich möchte keine arrangierte Ehe mit einem Fremden!"

„Aber Kind!", rief meine Mutter aus.
"Woher kommen immer diese anmaßenden Gedanken!", fluchte mein Vater, „Das muss der Einfluss deines Studiums sein! Ein großer Fehler so etwas zu erlauben! Wie kommst du auf so etwas? Alle Ehen werden arrangiert, außer die der kleinen Leute und all jenen, die an ähnlichen Unfug wie dir wahre Liebe glauben!"

Ich hatte keine Kraft mehr, jedes Mal wurde ich erneut von diesen zwei Personen enttäuscht. Selbstverständlich wussten sie nichts mit „wahrer Liebe" anzufangen. Ich vielleicht auch nicht, aber ich war doch sehr bereit sie noch kennenzulernen.

Nein, ich würde mich nicht ihrem Willem beugen; diesmal nicht.
Mir war klar, was (und auch wen...) ich mir wünschte.

Anne & Gilbert (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt